Fußballvereine in Ostdeutschland: Das verlorene Fußball-Paradies des Ostens

An diesem Spieltag Anfang September kommt Bautzen ins Ernst-Abbe-Sportfeld in Jena. Budissa Bautzen. Wäre es doch wenigstens Magdeburg, der Rivale aus früheren Jahren. Oder Dynamo Dresden, mit dem die Jenaer manches Spitzenduell ausgefochten haben, damals, in der guten alten Fußballzeit. Oder Rot-Weiß Erfurt, der ewige Erzfeind. Aber die spielen nicht in Jenas Liga, die spielen inzwischen alle eine Klasse höher. Nicht Bundesliga eins und auch nicht zwei, da gibt’s 25 Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung außer Union Berlin und dem Retortenclub RB Leipzig keine ostdeutschen Vereine. Aber 3. Liga, immerhin. Das ist ein Erfolg, nachdem es für die meisten nach 1989 erst mal mehr oder weniger steil nach unten ging, und es für manchen Club sogar in der Insolvenz endete.

In der 3. Liga finden jetzt die ostdeutschen Derbys statt, allein acht Erstligisten der DDR treffen hier aufeinander. Eine Zeitung nannte das „DDR-Oberliga mit Westbeteiligung“. Eigentlich fehlen nur BFC Dynamo und der 1. FC Lok Leipzig. Und natürlich der FC Carl Zeiss. Jena spielt immer noch – oder schon wieder – regional, gegen Meuselwitz, Neustrelitz und Bautzen. Selbst gegen den Zipsendorfer Fußballclub Meuselwitz ging das Spiel neulich 0:2 verloren.

„Rebell und Volksheld“

„Meuselwitz, das waren früher drei Häuser, vier Spitzbuben“, sagt Peter Ducke. „Die hätten wir zweistellig weggeknallt.“ Der Schwarze Peter, wie ihn Fans und Reporter nannten, war in den Sechziger- und Siebzigerjahren Mittelstürmer des FC Carl Zeiss Jena. Er sitzt an einem der letzten warmen Sommertage in kurzen Hosen und barfuß auf dem Sofa seines bescheidenen Wohnzimmers und trinkt eine Cola. Ducke ist jetzt 75 und lebt mit seiner dritten Frau in Großschwabhausen, einem kleinen Ort bei Jena, in dem die Wege Am Anger heißen oder Kirchgasse. An einer Wand hängen Indianerbilder, Ducke ist Indianerfan und war auch schon in Amerika auf ihren Spuren. Quicklebendig springt er auf, läuft zur Wand gegenüber, die voller Erinnerungen an seine Fußballzeit ist. Eine große Peter-Ducke-Uhr mit seinem Bild, Fotos, Urkunden, eine Ducke-Briefmarke – „Rebell und Volksheld“ –, die seltsamerweise die österreichische Post herausgegeben hat, eine Ducke-DVD, ein Ducke-Buch, ein Karton voller Autogrammkarten, von denen er dem Besucher gleich ein paar in die Hand drückt.

Ducke war beliebt bei den Zuschauern; das Enfant terrible des ostdeutschen Fußballs, selbstbewusst, eigensinnig, unberechenbar, aufbrausend, genial. Er konnte vier, fünf Gegner ausspielen und machte sein Tor. Bei einem Auftritt der DDR-Nationalmannschaft in Brasilien spielte er gegen Peles FC Santos. Pele war schwer beeindruckt, er nannte ihn einen der zehn besten Mittelstürmer der Welt. In einer Umfrage zum Jahrhundertfußballer in Deutschland landete er als einziger Ostdeutscher unter den ersten zehn, zwischen Wolfgang Overath und Jürgen Klinsmann.

Peter Ducke sagt, was viele Jenaer denken, die die Erfolgsmannschaft noch kennen: Jena und Regionalliga, das passt nicht mit dem Selbstverständnis dieses Clubs zusammen. Jena. Der dreifache Meister und viermalige Pokalsieger. Der Club, der einmal 75 Oberliga-Heimspiele hintereinander nicht verlor. Der Spitzenreiter der ewigen DDR-Oberligatabelle. Der Europapokalfinalist. Der Club der großen Namen. Die Ducke-Brüder, Peter und Roland, Konrad Weise, Eberhard Vogel, Lothar Kurbjuweit. „Wir waren mit Jena damals schon in der Zukunft“, sagt Peter Ducke.

Nach der Wende kam der große Druck

Damals, das waren die Siebzigerjahre. Vom VEB Carl Zeiss Jena kam bis zur Wende das Geld. Ducke bekam zwischen 1200 und 1500 Mark im Monat, die Spieler waren de facto Profis. Natürlich hätte er mit seinen Qualitäten im Westen deutlich mehr verdienen können, und es gab auch Gelegenheiten. Schon 1962 bat ihn während eines Banketts in Malmö ein Deutscher aus Bremen vor die Tür. „Dort stand ein Mercedes“, erzählt Ducke. „Der Mann bot mir 80.000 Mark direkt auf die Hand und sagte: „Sie werden wegfahren und brauchen sich um nichts zu kümmern.“ Ducke hat abgelehnt, auch alle späteren Avancen; Olympique Marseille wollte ihn, da war er schon 33. „Ich hatte eine Familie. Kinder. Das Geld stimmte. Wir hatten mit Georg Buschner, der später die Nationalmannschaft übernahm, einen genialen Trainer. Und ich hab die Welt gesehen, Europa sowieso, Asien, Südamerika. Paradiesisch. Warum sollte ich in den Westen gehen?“

Für Peter Ducke gehört Jena in die 2. Liga, mindestens. Aber wie geht man mit solchen Ansprüchen um? Der Club kultiviere die großen Erfolge nicht genug, sagt er. Andere würden sie am liebsten aus dem kollektiven Gedächtnis streichen und den Club umbenennen, weil es sich ohne Druck leichter lebt.

Druck gab es immer seit der Wende; der Club hat eine 25-jährige Achterbahnfahrt hinter sich, in der sich Chancen, Erfolge und bittere Stunden ablösten: 2. Liga nach Platz 6 der letzten DDR-Oberliga-Tabelle. Regionalliga, Wiederaufstieg in die 2. Liga, Regionalliga, vier Jahre Oberliga, Regionalliga, 2. Liga mit der realen Möglichkeit, sich dort zu etablieren, aber man war zu ungeduldig, 3. Liga, seit drei Jahren wieder Regionalliga. Ein steiniger Weg in den gesamtdeutschen Fußball, den auch andere einstige Spitzenmannschaften nach der Wende gehen mussten. Marktwirtschaft war plötzlich zu erlernen, ein ganz ungewohntes Feld. Von heute auf morgen waren die Clubs gezwungen, sich als eingetragene Vereine in Eigenregie zu finanzieren. Privilegien fielen weg, etwa die Praxis, sich aus einem Pool untergeordneter Sportgemeinschaften die Talente rauszufischen. Delegierung nannte man das zu DDR-Zeiten. Vor allem aber hat die Schließung der DDR-Nachwuchszentren den Fußball im Osten weit zurückgeworfen. Leverkusens Manager Reiner Calmund erkannte schon früh: „Die waren uns um Jahre voraus.“

Aderlass mit Langzeitfolgen

Betriebe, die die Vereine bis dahin unterstützt hatten, gingen in Konkurs oder stellten die Zahlungen ein. Glücksritter aus dem Westen kamen und Plünderer – sie versprachen, Wunderdinge zu vollbringen. Aber wo gibt es Wunder? Eher schon Pleiten. Westvereine kauften die besten Spieler weg. Schon eine Woche nach dem Mauerfall war Calmund mit Millionen in der Brieftasche gen Osten gezogen. Andreas Thom war der Erste, für 2,6 Millionen Mark lotste ihn der umtriebige Manager nach Leverkusen. Ein Schnäppchen. Matthias Sammer wechselte von Dresden zu Stuttgart, Thomas Doll vom BFC Dynamo zum Hamburger SV. Auch Ulf Kirsten landete in Leverkusen; Später kam noch der Jenaer Bernd Schneider dazu. Das sind nur die bekanntesten. Etwa 150 DDR-Fußballer wechselten in den ersten Jahren nach der Wende von Ost nach West. Es blieb der Rest, der im Westen nicht unterkam. Unbekannte Namen. Die letzten erfolgreichen Fußballer aus Ostdeutschland wie Michael Ballack, Jens Jeremies oder Carsten Jancker sind Geschichte. Bis heute haben sich die Ostvereine von dem Aderlass nicht erholt.

Und natürlich wurden in den Vereinen, teils aus Unerfahrenheit, teils aus Größenwahn, auch eine Menge Managementfehler gemacht. Allen ostdeutschen Clubs erging es früher oder später so. Mannschaften wie Halle oder Magdeburg gingen wie Jena durch tiefe Täler, aber sie haben es schon wieder in die 3. Liga geschafft.

Peter Ducke geht schon lange nicht mehr ins Stadion, wenn Jena spielt. Ducke ist Fußballästhet, er schwärmt von Messi, den er sich im Stadion Camp Nou in Barcelona schon mal original angeschaut hat. Jena-Fan ist er nicht. Dabei könnte er für den Verein eine Identifikationsfigur sein, wie Uwe Seeler in Hamburg oder Wolfgang Overath in Köln. Aber er fühlt sich nicht genügend hofiert. So trifft er sich am Abend, als Jena gegen Budissa Bautzen spielt, lieber mit Freunden in Großschwabhausen auf ein Glas Wein.

Metalcore und Totenköpfe

„Willkommen im Paradies!“, wird der Wanderer begrüßt, wenn er ins Ernst-Abbe-Sportfeld kommt. Jena-Paradies, so heißt der idyllische Flecken zwischen Saale und grünen Hügeln, auf dem das Stadion liegt. Kein schlechter Werbeeinfall, warum denn nicht mit den Pfunden wuchern, die man noch hat. Das Stadion, benannt nach dem Jenaer Physiker und Unternehmer, ist ja nicht gerade im Bestzustand. Es gibt eine Rasenheizung, immerhin. Aber früher standen im Paradies einmal vier riesige Flutlichtmasten, sanfte Riesen nannte man sie, 1974 zu siebzig Metern Höhe aufgerichtet, die größten Europas. Die maroden Masten mussten abgerissen werden, als 2013 die Sintflut, das große Hochwasser, das Paradies schon ein zweites Mal in kurzer Zeit heimsuchte. Mancher Fan soll geweint haben, als es so weit war. Wenigstens einen wollten sie erhalten, als Symbol und Erinnerung, aber auch daraus wurde nichts. Wie ein halsloser Dinosaurier steht hinter der Südkurve nur noch ein letzter der riesigen vierbeinigen Mastfüße. Der stählerne Mast liegt zertrennt daneben.

Maik Weichert hat miterlebt, wie die Masten demontiert wurden, es war eine Zäsur. Weichert ist 37, promovierter Jurist und Gitarrist der Saalfelder Metalcore-Band Heaven Shall Burn (Der Himmel soll brennen). Er macht zurzeit sein zweites Staatsexamen. Wenn er mit der Band nicht gerade irgendwo in der Welt auf Tour ist, kommt er wie an diesem Tag zum Spiel gegen Bautzen ins Stadion. Er ist Jena-Fan, solange er denken kann. Warum gerade Jena? „Jemand, der das beantworten kann, sagt Weichert, „der trägt seinen Verein nicht im Herzen, sondern im Kopf.“

Heaven Shall Burn gibt es seit 1996. Heaven, erklärt Weichert, steht für ein falsches Paradies, das sich Leute in ihren Köpfen aufbauen. Dieses Paradies soll zerstört werden, soll brennen. Die Leute müssen aus ihren Tagträumen erwachen, findet die Band, sie sollen begreifen, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen sollten statt auf irgendeinen Gott zu vertrauen. Sieht so aus, als hätte diese Philosophie auch für den Fußball in Jena schon etwas bewirkt. Vor zwei Jahren saßen die Jungs von der Band mit ein paar Clubverantwortlichen zusammen und irgendwann entstand die Idee, die Spieler könnten doch mit dem Namen der Band auf dem Trikot auflaufen, erzählt Weichert. „Wir wollten nicht immer nur rumsitzen und meckern, das war uns irgendwann zu blöd.“

Metalcore statt Stadtsparkasse, einen Großsponsor gab es ohnehin nicht. Carl Zeiss, dessen Namen der Verein noch immer trägt, ist als Unternehmen steinreich, aber die Firma gibt dem Verein keinen Cent. Also das Paradies brennen lassen, etwas Mutiges wagen statt der ausgetretenen Pfade. „Jena ist eine coole, junge Stadt“, sagt Weichert, „da kann doch auch beim Sponsoring mal was Cooles, Junges kommen.“ Die Toten Hosen und Fortuna Düsseldorf haben ja gezeigt, dass so etwas geht. 60 000 Euro ungefähr zahlt die Band dem Verein jährlich. Die Musiker wollen nichts dafür: „Wir sitzen immer noch auf unseren alten Stadionplätzen“, sagt Weichert, „und fressen nicht das VIP-Buffet leer.“ In dieser Saison haben sie der Walschutzorganisation Sea Shepherd auf dem Trikot Platz eingeräumt, weil sie die unterstützen. Seitdem treten Jenas Kicker mit einem Totenkopf auf, dem Logo der Tierschützer.

Unbeugsam und unverkäuflich

Los geht’s gegen Budissa. Jena läuft zu Metal-Hämmern von Heaven Shall Burn ein, die Brust soll breit sein, die Truppe selbstbewusst. Eine Mannschaft von jungen Kickern, gegen die Elf aus Bautzen jedoch klar favorisiert. Zwar gab es das Debakel gegen Meuselwitz, aber im Pokal wurde gerade der Hamburger SV mit Leichtigkeit und Aggressivität sensationell 3:2 rausgekickt. Es war ein Abend wie in den besten Zeiten, wie 1980, das legendäre Duell, als Jena den AS Rom nach einem 0:3 auswärts dann im heimischen Abbe-Sportfeld 4:0 niederrang.

2783 Zuschauer sind zum Spiel gekommen. Im zweistöckigen VIP-Zelt und den Logen gibt’s für die Jenaer Honoratioren Häppchen, Rotkäppchen-Sekt und Apoldaer Bier. 1 500 Euro ungefähr kostet eine VIP-Karte im Jahr, die meisten der ungefähr 100 Sponsoren unterstützen den Club auf diese Weise.

Die Südkurve schräg gegenüber gehört der Fangruppe Ultras. Ultras, das sind auf den Fußballplätzen die fanatischsten unter den Fans. Sie haben ein riesiges Spruchband ausgerollt, „Unbeugsam und unverkäuflich“ steht darauf. Sie schwenken ihre Fahnen, schlagen die Trommel und stimmen ihre Gesänge an, die bis zum Ende des Spiels nicht mehr aufhören werden. Ein sogenannter Capo koordiniert mit dem Megafon die Gesänge. Bestimmte Klamotten oder Tattoos sieht man hier nicht, Jenas Südkurve ist anders als manche ostdeutsche Kurve nazifrei.

Wie trostlos es ohne die Ultras im Stadion sein kann, musste der Club monatelang erleben. Auf einer Versammlung wurden die Mitglieder vor knapp zwei Jahren gefragt, ob der schwerreiche belgische Investor Roland Duchatelet Anteile der FC Carl Zeiss Jena Spielbetriebs GmbH erwerben darf. Die war bereits 2007 ausgegliedert worden, weil ein russischer Oligarch Interesse am Club gezeigt hatte, aber dann stellte sich heraus, dass die Miliz schon gegen ihn ermittelte. Die GmbH stand kurz vor der Pleite und Duchatelet kam wie ein Retter. Er betreibt unter anderem seit 1991 ein Halbleiter-Unternehmen in Erfurt mit heute 750 Mitarbeitern. Mitte der 2000er Jahre fing er an, in den Fußball zu investieren, kaufte Fußballmannschaften in Belgien, Ungarn, Spanien und England. Bei Standard Lüttich haben ihn die Fans nie richtig angenommen. Er verkaufte wichtige Spieler, traf falsche Trainerentscheidungen, zog Geld aus dem Verein. Inzwischen hat er Standard wieder verkauft.

Der Deal in Jena: zwei Millionen Euro für 49,98 Prozent, eigentlich ein Schnäppchen, aber viel war ja auch nicht mehr da von dem ruhmreichen Club. Dazu die Zusicherung, für den Notfall vier Jahre lang ein Millionen-Darlehen bereitzustellen. 518 Vereinsmitglieder stimmten nach scharfen Diskussionen für den Investor, 128, vor allem Ultras, gegen ihn. „Uns erwischte damals ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht“, sagt Toni, einer der Sprecher der Ultras, seinen ganzen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Toni ist 28. Er sagt, viele in seiner beruflichen Umgebung könnten es in den falschen Hals kriegen, wenn sie lesen, dass er ein Ultra ist.

Die Ultras beschlossen damals, die Trommelstöcke ruhen zu lassen und im Stadion zu schweigen. In ihrer Südkurve hängten sie ein Plakat auf: „Duchatelet casse-toi – Verpiss dich, Duchatelet“. Darunter stand: „In fünf Jahren Zweite Liga? In zehn Jahren bankrott! Wer zahlt die Rechnung?“ Jenas Ultras sind Fans, die nicht nur Krach machen, sondern sich auch für ihren Verein verantwortlich fühlen. Der sportliche Erfolg, sagt Toni, sei zwar schön und gut, aber nicht alles. Entscheidend sei letztlich der Preis. Und für viele Fans sei der Verein eine zweite Heimat geworden, die wollen sie sich nicht zerstören lassen.

Ständiger Kampf mit den Widersprüchen

Sportlicher Erfolg oder Wärme. Heimatgefühl oder Fremdbestimmtheit. Geld oder Mitbestimmung. Irgendwie haben ja alle Fußballvereine mit solchen Widersprüchen zu tun, nicht nur im Osten. Toni nennt es „einen Drahtseilakt“, das richtige Maß zu finden. Da brauche es eine Fanszene, die hellwach ist, sagt er.

Ein Jahr lang war es totenstill im Stadion, dann stiegen die Ultras wieder mit ihren Gesängen ein. Duchatelet hatte seinen Erfurter Finanzvorstand Chris Förster als Geschäftsführer eingesetzt, Thüringer, Jena-Fan und Vereinsmitglied. Förster war es, der den Belgier von dem Investment als Minderheitsgesellschafter überzeugte. „Er hat ja in Lüttich erlebt, dass auch 100 Prozent der Anteile nicht zwangsläufig glücklich machen“, sagt Förster. „Also warum nicht knapp unter 50 Prozent, so wie das im deutschen Fußball möglich ist? Am Ende funktioniert das, gerade bei so einem kleinen Verein wie Jena, ohnehin nur, wenn nicht einer alleine regiert, sondern alle an einem Strang ziehen.“

Duchatelet scheint, anders als in Lüttich, in Chris Förster einen guten Statthalter und Berater zu haben. Förster suchte den Dialog, auch zu den Ultras. Ein Vereinsbeirat wurde gegründet, der den Vorstand berät, und in dem auch ein Vertreter der Ultras sitzt. Ein Kreativzirkel, der neue Ideen entwickelt, sportliche und wirtschaftliche. Da geht es um das neue Stadion, das, wenn alles gut geht, 2018 gebaut werden soll. Aber auch um solche kleinen Sachen, wie das Vorhaben, künftig als Verein die Bratwürste selbst zu verkaufen.

Duchatelet und sein Geschäftsführer Förster wollen beweisen, dass es auch in Jena mit dem Profifußball geht. Mannschaften wie Magdeburg oder Halle haben es ja vorgemacht, warum nicht Jena mit seinen Voraussetzungen. Aber der Verein soll selbstständig funktionieren, der Investor will nicht ständig Geld nachschießen. Das ist auch im Sinne der Fans, denn nur so erhält sich der Club eine gewisse Unabhängigkeit. Verein und Ultras haben zurzeit ein gutes Verhältnis, sagt Chris Förster, und auch Toni bestätigt das. 750 neue Vereinsmitglieder haben sie seit dem letzten Jahr gewonnen.

Ach ja, Budissa Bautzen. Am Ende steht es 0:0. Es war ein ziemlich grauenhaftes Gekicke, ohne einen einzigen wirklichen Torschuss für Jena. Kaum vorstellbar, dass der HSV sich vor ein paar Wochen hier drei Treffer einfing und verlor. Nach sechs Tagen Liga steht Jena auf Platz vier, schon sieben Punkte hinter Zwickau.

Trainer kamen, Trainer gingen

„Geduld“, sagt der Präsident und Sportliche Leiter Lutz Lindemann am nächsten Morgen. „Wir müssen Geduld haben.“ Klingt merkwürdig ein Vierteljahrhundert nach der Fußballvereinigung, eigentlich war ja genug Zeit. Aber vielleicht braucht es ja gerade deshalb jetzt Geduld, weil man in Jena lange viel zu ungeduldig war. In der „Lichterstadt“, dem „Leuchtturm Thüringens“, sollte auch der Fußball hell leuchten. 35 Trainerwechsel gab es in 25 Jahren, das dürfte ein weiterer deutscher Rekord sein. In Halle beispielsweise arbeitete der Trainer zuletzt acht Jahre lang, ehe er im August freigestellt wurde. 13 Präsidenten beziehungsweise Vereinsvorsitzende tauschten seit der Wende in Jena die Sessel. Teure Spieler wurden gekauft, um als Verein schnell nach oben zu kommen. Wie Söldner zogen sie dann weiter durch die Liga, wenn der Erfolg ausblieb, und es ein besseres Angebot gab. Am Ende, als die Findungsphase im ostdeutschen Fußball eigentlich schon vorbei war, Strukturprobleme in den Regionen gelöst waren und andere sich auf Augenhöhe zu vergleichbaren Vereinen im Westen befanden, drohte in Jena die Pleite.

Anderthalb Jahre ist Lindemann jetzt im Amt, im Fußballgeschäft ist der 66-Jährige schon eine halbe Ewigkeit. Da erlebt man viel und kriegt irgendwann ein dickes Fell. „Wenn du als FC Carl Zeiss Jena in der 4. Liga spielst, machst du dir nicht nur Freunde“, sagt Lindemann. „Wenn’s gut läuft, wie im Pokal gegen Hamburg, kriegst du plötzlich 60 euphorische Mails und hast eine Menge Fans. „Wenn’s schlecht läuft, kommt schon mal eine SMS: ‚Wenn du nicht freiwillig gehst, peitschen wir dich aus dem Stadion.‘ Ich lass das nicht mehr an mich ran. Ich mach’ den Job, weil ich immer noch was will für den Club. Aber ich muss nicht mehr.“

Lutz Lindemann beobachtet genau, was im ostdeutschen Fußball passiert, und warum Mannschaften wie Magdeburg oder Halle Erfolg haben. „Wir müssen endlich aufhören, uns zu belügen“, hat er im Januar auf der Mitgliederversammlung gesagt. „Aufhören, mit großen Versprechungen und Zielen um uns zu werfen, nur weil wir der ruhmreiche FC Carl Zeiss Jena sind. Dafür können wir uns nichts kaufen.“ Jetzt werden erst mal kleine Brötchen gebacken, und Geduld ist die neue Tugend. Die Mannschaft ist sehr jung, gleich acht Spieler aus der eigenen U19 wurden zu Saisonbeginn in den Kader aufgenommen. Jena leistet eine vorbildliche Nachwuchsarbeit, A- und B-Jugend spielen in der Bundesliga, das ist einmalig. Die besten werden von Clubs wie Wolfsburg oder RB Leipzig weggekauft, aber es bleiben noch genug. 13 von 23 Spielern aus dem gegenwärtigen Kader wurden in Jena ausgebildet, sieben sind jünger als 21 Jahre alt. Das ist auch ein wirtschaftlicher Vorteil; eigener Nachwuchs senkt den Spieleretat, bei Jena zurzeit etwa 450 000 Euro. 1 500 bis 2 000 Euro etwa verdient ein Spieler monatlich.

Geduld ist gefragt

Ein neuer Trainer kam Ende letzten Jahres, Volkan Uluc, ein türkischstämmiger Deutscher, der zuvor fünf Jahre den BFC Dynamo trainierte; auch so ein ostdeutscher Traditionsclub, der jetzt in der Regionalliga spielt. Ein ruhiger, besonnener Trainer, der weiß, was er will. Jemand aus dem Club hat ihn mal mit einem Buddha verglichen, nicht nur wegen seines Äußeren. Sieht so aus, als würde Jena gerade so einen Mann brauchen.

Am Abend nach dem Spiel sitzen Lindemann und Uluc noch lange zusammen und analysieren das Spiel gegen Bautzen. Lindemann versteht was von Fußball, er spielte zu seiner Zeit über 200 Mal für Jena und ein paar Mal auch für die DDR-Nationalmannschaft. Es geht um das Flügelspiel, um Dreier- und Fünferketten, um Führungsspieler, die der Mannschaft Halt geben könnten, ihr aber fehlen. Uluc und sein Präsident sind sich einig, die junge Mannschaft geduldig zu entwickeln, und Lindemann gibt dem Trainer die Zeit. Das war nicht immer so in Jena. Aber was heißt schon geduldig in dem schnelllebigen Fußballgeschäft? Alle Zeit der Welt hat der Trainer nicht, spätestens in der kommenden Saison soll der Aufstieg in die 3. Liga folgen. Sonst lohnen sich alle Investitionen nicht.

In den Spielen nach der torlosen Partie gegen Bautzen sieht es dann schon wieder besser aus; Jena gewinnt 2:1 gegen Optik Rathenow und 4:0 gegen Aufsteiger Luckenwalde. Macht erst mal Platz zwei, vier Punkte hinter dem Spitzenreiter, der am Ende als Einziger um den Aufstieg spielen darf. Am 28. Oktober geht’s im DFB-Pokal gegen den VfB Stuttgart, nicht nur sportlich wieder eine große Chance. 250 000 Euro würde das Weiterkommen bringen, ein halber Jahresetat zusätzlich.

Das Match war schon ausverkauft, als der Gegner noch gar nicht feststand. Zum Spiel muss allerdings eine temporäre Flutlichtanlage aufgebaut werden, das kostet. Und eine zusätzliche Tribüne. Die alte ist schon länger gesperrt. Darunter hausen die Karnickel.