Gastgeber: Warum die russische Mannschaft mehr Kilometer zurücklegt als der Rest
Moskau - Zehn Millionen Russen fordern den Rücktritt von Nationaltrainer Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow. Okay, das ist jetzt nicht ganz richtig. Aber ganz falsch ist die These sicherlich nicht, dass ein zehn Millionen Mal bei Youtube aufgerufener Song etwas aussagt über die niedrigen WM-Erwartungen der russischen Fußballfans. Und viel mehr noch: über ihren Humor. Okay, die Erwartungen haben sich nach zwei Siegen in zwei Spielen und dem bereits sicheren Erreichen des Achtelfinals geändert. Die vor dem Eröffnungsspiel im Doppelpack angebotenen Schals sind ja erst mal aus dem Sortiment genommen worden. Auf dem einem stand: „Gut gemacht!“ Auf dem anderen: „Trotzdem gut gemacht!“ Über Tschertschessows Mannschaft kann aber weiterhin jeder lachen, der sich Semjon Slepakows „Olé, olé, olé!“ anhört.
Hier ein paar Zeilen zum Mitsummen, nachzulesen im wunderbaren Blog buterbrod-und-spiele.de: „Eigentlich ist alles gut, wäre da nicht ein Aber: Unsere Mannschaft ist für den Arsch … Und allen ist klar, dass der traurige Tschertschessow aus diesen Dödeln keine Praline mehr machen kann … Also, bis zum Turnier bleiben drei Tage, und wir müssen dringend den Trainer wechseln.“ Slepakow, der als Autor und Singer-Songwriter regelmäßig in der beliebten Fernsehsendung Comedy Club auftritt, hat natürlich einen Vorschlag: Ramsan Kadyrow, der Superautokrat Tschetscheniens. „Ramsan, Ramsan, Ramsan – hart wie Parmesan“. Menschenrechtsaktivisten würden härtere Metaphern finden.
ABC des Erfolgs
Morgen spielt Russland gegen Uruguay, in Samara geht es um den Gruppensieg, und weil Tschertschessow am Vortag zur Fragerunde erschien, muss man davon ausgehen, dass er immer noch Trainer ist. Als solcher stellte er auch gleich eine Gegenfrage: „Excuse me, is this a question for match or philosophy?“ Eher ging es um medizinische Dinge. „I’m not a doctor, I have other qualities, I’m a coach“, sagte Tschertschessow und damit war das Thema Doping für ihn beendet. Oder besser: fast. Denn noch wollte ein Reporter wissen, wie der Trainer sich den Umstand erklärt, dass seine Mannschaft bei diesem Turnier deutlich mehr Wegkilometer pro Spiel zurücklegt als alle anderen.
Tschertschessow überlegte kurz, ob dieser rhetorische Schleichpfad an ein brisantes Thema, eventuell eine Approbation verlangt, und entschied sich dann für eine dreigeteilte Antwort, die er das ABC des bisherigen Erfolges nannte: A) Ein Heimturnier ist die beste Motivation für alle. B) Er habe ein paar Schlüsse aus dem Confed Cup vor einem Jahr gezogen. C) Die Spieler machen das, was er von ihnen verlangt. Und das ist bestimmt etwas anderes, als Slepakow dem Trainer Kadyrow in den Mund legt: „Alle sollen Tore schießen, der Torwart alles halten.“
Verschmutzt Urinprobe
Das Dopingthema ist aber nicht beendet. Noch lange nicht. Die britische Mail on Sunday berichtet von neuen Vorwürfen, die zur alten Frage passen: Wenn es ein nachweislich von oben gelenktes Staatsdopingprogramm gab in Russland, warum sollten Fußballer nicht auch nachgeholfen haben? Der renommierte Fußballautor Nick Harris hat da so seine Zweifel und stützt sie auf die Tagebücher, Mails und Aussagen des Whistleblowers Grigorij Rodtschenkow. Aus diesen und anderen Dokumenten soll etwa hervorgehen, dass eine verschmutze Urinprobe von Ruslan Kambolow verschwunden sein soll und ersetzt durch die saubere eines Modernen Fünfkämpfers. Auf Anordnung des Sportministeriums. Der Innenverteidiger von Rubin Kasan wurde vorläufig nominiert, steht aber nicht im aktuellen WM-Kader. Die Fifa hatte ihre Untersuchungen „mangels ausreichender Beweise für das Vorliegen eines Verstoßes“ bereits vor einem Monat abgeschlossen.
Auf Twitter schreibt Nick Harris: „Würden Sie der Fifa in Sachen Integrität glauben? Nein. Würden Sie Russland beim Thema Doping glauben? Nein. Sind russische Spieler bei dieser Weltmeisterschaft gedopt? Dafür gibt es absolut keine Beweise. Glauben Sie dem, was Sie von ihnen sehen bei diesem Turnier? Nein.“ Jeder muss das für sich entscheiden.
Pures Glück
Neben Tschertschessow saß gestern Fjodor Smolow auf dem Podium. Und der Stürmer gab einen Einblick, wie die Mannschaft mit den Vorwürfen umgeht. Wie sie zunächst den Spott erlebte und nun mit den überschwänglichen Reaktionen umgeht. „Wir leben gerade in einem Vakuum“, sagt er. Sie hätten keine Zeit für Medien und Meinungen. Und sie seien ohnehin am glücklichsten über das bislang Erreichte. Und erreicht hätten sie das Achtelfinale bestimmt nicht so, wie Semjon Slepakows es sich in seinem Song vorstellt: „Sitzen beim Training in der Kabine zusammen, zeigen sich gegenseitig ihre Tattoos. Einer schreibt seiner Tussi aus dem Club von gestern, ein anderer schaut sich etwas Lustiges auf Youtube an.“