Gesucht, gefetzt, gefunden: Martina Voss-Tecklenburg und ihre DFB-Frauen

Hinter der Bundestrainerin liegt ein langer Findungsprozess, der sie und ihr Team in das Halbfinale der EM geführt hat. Dort soll aber noch nicht Schluss sein.

Längst nicht mehr nur Einzelkämpferin: Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg (2. v. l.) hat nicht nur ihre vertraute Assistenztrainerin Britta Carlson (3. v. l.) neben sich, sondern ein großes Team von Assistenten.
Längst nicht mehr nur Einzelkämpferin: Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg (2. v. l.) hat nicht nur ihre vertraute Assistenztrainerin Britta Carlson (3. v. l.) neben sich, sondern ein großes Team von Assistenten.dpa/Sebastian Gollnow

Wie und wann auch immer diese Europameisterschaft für Martina Voss-Tecklenburg und die deutschen Fußballerinnen in England endet – für die Bundestrainerin wird es danach heißen: runter von der Insel, reif für den Urlaub. „Wenn ich nach dem Turnier nach Hause komme, möchte ich zwei Tage nicht reden“, sagt die 54-Jährige. Während der EM abzuschalten, ist praktisch unmöglich. In der letzten Woche mit dem Halbfinale gegen Frankreich am Mittwoch (21 Uhr MESZ / ZDF und DAZN) in Milton Keynes und dem so erhofften Endspiel am Sonntag in Wembley mobilisiert Voss-Tecklenburg noch einmal alles. Fest steht bereits jetzt: Das Team und sie haben sich gefunden.

Höchstens sechs Stunden Schlaf für die Bundestrainerin

Der Tag beginnt für Voss-Tecklenburg im Teamhotel im Syon Park von Brentford mit einer halben Stunde Schwimmen im Pool, um 9.15 Uhr steht das erste Meeting mit ihrem Betreuerstab an. „Abends bin ich einer der Letzten, ich habe hier höchstens sechs Stunden Schlaf in der Nacht“, sagt sie lächelnd. Nach Spielen schläft sie nie vor drei Uhr ein.

Den Kopf kurz frei bekommen, das gelingt ihr höchstens „mit einem guten Buch. Du bist ja mental nie weg.“ Vergangene Woche lag die in Straelen lebende frühere Nationalstürmerin tatsächlich mal fast zwei Stunden in einer Hängematte und schmökerte im Bestseller „Was ich nie gesagt habe: Gretchens Schicksalsfamilie“ von Susanne Abel.

Am Spielfeldrand sei sie nicht nervös, sagt Voss-Tecklenburg, „aber es ist schon eine unglaubliche Anspannung“. Gestärkt wird sie regelmäßig auch von ihrem Ehemann: Bauunternehmer Hermann Tecklenburg fliegt zu den Spielen ein. Ihre sonstige Gelassenheit schöpft sie natürlich auch aus dem Gefühl, dass ihre Mannschaft bisher alle beeindruckt hat – was nicht unbedingt zu erwarten war.

„Wir sind mit der Zeit enger zusammengerückt. Das Trainerteam bindet uns ein, wir geben ihm Rückmeldungen“, sagt Vizekapitänin Svenja Huth vom VfL Wolfsburg. In der langen Vorbereitung hatte es schon einige Male gekracht: So geriet „Belastungssteuerung“ zum Unwort, die Spielerinnen forderten mehr Einheiten auf dem Platz.

Voss-Tecklenburg selbst sagt auch mit Blick auf das Viertelfinal-Aus bei der WM 2019 und ihren Trainerstab: „Wir mussten erst mal Klarheit bei uns haben, bevor wir Klarheit bei den Spielerinnen verlangen. Das ist ein Prozess, durch den wir alle gegangen sind.“ Sie sei vorher als Trainerin mehrheitlich alleine unterwegs gewesen, als Nationalcoach in der Schweiz mit ihrem Assistenten lange alleine. „Ich war immer sehr dominant. Ich wollte am liebsten von vorne bis hinten als Trainerin alles alleine machen“, räumt sie ein.

Inzwischen führt sie ein Betreuerteam an. Dies besteht aus ihrer Vertrauten Britta Carlson sowie den weiteren Assistenten Thomas Nörenberg, Patrik Grolimund, Jan-Ingwer Callsen-Bracker und Torwarttrainer Michael Fuchs. „Diese Qualität hier von den sportlich Verantwortlichen, die ist so gut und auch eingespielt. Das gibt mir als Trainerin eine viel größere Sicherheit“, erklärt Voss-Tecklenburg heute.

Im Umgang mit der Mannschaft gelte „weniger der erhobene Zeigefinger. Da muss man trotzdem konstruktiv und klar bleiben, wenn es mal nicht läuft.“ Es gehe bei Gesprächen mit den Spielerinnen, die ein hohes Maß an Eigenverantwortung übernehmen, immer in den Dialog mit der Fragestellung: „Wie ist deine Perspektive?“

Auch über den Mannschaftsrat mit Kapitänin Alexandra Popp, Almuth Schult, Lena Oberdorf, Svenja Huth, Sara Däbritz und Lina Magull habe sich ein größeres Verständnis füreinander aufgebaut. „Das macht uns sicherer. Wir haben auch vieles in der Kommunikation auf das Wesentliche reduziert“, sagt Voss-Tecklenburg.

In der TV-Dokumentation „Born for This“ über den Weg der DFB-Frauen zur EM kommt zum Ausdruck, „dass es nicht immer so lief, wie wir das wollten, dass die Zusammenarbeit nicht immer gestimmt hat“, bestätigt Wolfsburgs Lena Lattwein. „Untereinander, aber auch zwischen uns und Trainerteam. Diese schwierigen Phasen haben gutgetan, wir haben es geschafft, uns auszusprechen, uns wieder neu zu finden.“

Martina Voss-Tecklenburg erinnert an das Testspiel vor 78.000 Zuschauern

Und bei dieser EM sportlich erfolgreich zu spielen. In den bisherigen vier Spielen hat die Mannschaft von Martina Voss-Tecklenburg kein Gegentor bekommen und hofft gegen Frankreich auf den nächsten Schritt und das Endspiel an einem historischen Ort. „Natürlich gibt es nichts Schöneres als ein EM-Finale in England, im Wembley-Stadion zu spielen“, sagt die Bundestrainerin.

Dieser Tage erinnerte sie bereits daran, dass ihr Team dort ja schon einmal vor großer Kulisse auflaufen durfte: 2019 gewannen die DFB-Frauen ein Testspiel gegen England vor fast 78.000 Zuschauern mit 2:1. „Morgen wird ganz viel an uns liegen und an dem, was wir zulassen“, sagte Voss-Tecklenburg am Dienstag. Die 54-Jährige sprach mit Blick auf Gegner Frankreich von einer „Top-Mannschaft“, „aber wir haben auch gesehen, wo sie verwundbar sind.“ Es werde Mentalität brauchen – „und es wird wehtun. Wir sind bereit und werden alles reinwerfen, was wir haben – es wird ein Top-Halbfinale.“ Und vielleicht die Fortsetzung einer Geschichte von einer Trainerin und einer Mannschaft, die sich erst einmal finden mussten.