Heimspiel: Hertha kämpft gegen Wolfsburg um Anschluss an die Spitze
Ein Feierabendgespräch unter Nachbarn: Nein, Hertha habe er nie wirklich toll gefunden, sagt der eine. Seit dort der Dardaismus herrsche, sei das aber anders. „Hertha macht Spaß.“ Berlin ist um eine Attraktion reicher. Warum? Die Presserunde am nächsten Tag mit dem Begründer der neuen Fußballspaßbewegung liefert gleich zu Beginn einen Hinweis. „Ich möchte hier nicht irgendwelche Märchen erzählen“, sagt Pal Dardai, „also stellen Sie bitte Fragen.“
Locker, ehrlich und authentisch, diese Mischung macht den Trainer so beliebt, und die Geschichte von der ehrwürdig ergrauten Fußballdame, die auf einmal doch auszog, um die Konkurrenz in der Bundesliga das Fürchten zu lehren, schreiben seine Spieler sowieso auf dem Platz. Die Begegnung am Sonnabend gegen den VfL Wolfsburg (15.30 Uhr) bezeichnet Dardai als „Schlüsselspiel“: „Wenn du gewinnst, sieht die Tabelle gut aus.“ Seine Spieler hat er überzeugt. „Die Partie wird uns zeigen, wo wir stehen“, pflichtet Peter Pekarik bei, der 2009 mit den Wolfsburgern Deutscher Meister wurde und durch Europa tourte.
Nur 40.000 erwartet
Die Fans scheinen die wegweisende Bedeutung hingegen nicht zu erkennen, obwohl nicht nur Pekarik die „Euphorie in der ganzen Stadt“ fühlt. In Hinterhöfen, an Supermarktkassen und beim Blick auf die U-Bahn-Bildschirme, freut man sich über die Erfolge der Blau-Weißen, doch werden sich laut Hochrechnung nur 40.000 Zuschauer im Olympiastadion einfinden. Das liegt unter dem Saisonschnitt, obwohl ein Champions-League-Teilnehmer kommt, der in Julian Draxler „so ungefähr das Beste“ mitbringt, „was es im deutschen Fußball gibt“. Zwar sind Aussagen aus der Volkswagenstadt – sie stammt von VfL-Manager Klaus Allofs – nicht unbedingt vertrauenswürdig, in Gent zeigte Draxler aber durchaus Zauberhaftes.
Bei Hertha hat man das Manko erkannt: Weil die Fans nicht zum Klub kommen, nähert sich der Klub den Fans. Paul Keuter, der vormals den Sportbereich von Twitter in Deutschland leitete, transformiert seit Anfang dieses Jahres die digitale Hertha-Präsenz. Der neueste Coup: Fans können mit ihren smarten Telefonen die Ansetzungsplakate scannen und den abgebildeten Spieler zum Leben erwecken. Augmented reality nennt sich das, erweiterte Realität. Im aktuellen Fall klettert Marvin Plattenhardt mit einer Bitte aus dem Poster: „Unterstützt uns live im Stadion.“
Weiser und Kalou vermutlich fit
Noch ist die Realität nicht so verschoben, dass die Spieler in den Wohnzimmern ihrer Fans auflaufen, Hertha-Anhänger müssen bis auf Weiteres in die S-Bahnen Richtung Olympiastadion steigen. Dort werden sie dafür am Sonnabend wahrscheinlich Mitchell Weiser sehen und zwar in der höchst möglichen Realitätsstufe, also in echt. „Bei ihm sieht es sehr gut aus“, sagte Dardai. Der Rechtsverteidiger hatte nach dem Pokalviertelfinale in Heidenheim vor einer Woche eine Oberschenkelzerrung erlitten, wie auch Salomon Kalou, der vor einer Woche ausgewechselt wurde.
Das Abschlusstraining am Freitag soll das Duo mit der Mannschaft absolvieren, nachdem beide individuell mit Fitnesscoach Hendrik Vieth gearbeitet haben. Auch Kalou darf selbst entscheiden, ob er einsatzfähig ist. „Er muss ehrlich sein“, fordert Dardai. Er will keine Folgeblessuren riskieren. Nach Wolfsburg sind es noch zwölf Ligaspiele und im Idealfall zwei Pokalauftritte. Beide Spieler sind wichtig, das zeigte sich in Stuttgart, wo sie aussetzten. Und egal, ob Märchen oder virtuelle Realität: Die Geschichte muss stimmen.
Für Hertha gilt es derzeit, sportlich und wirtschaftlich den Anschluss zur Spitze zu halten. Laut einer Meldung des Magazins Kicker, hat sich am Rande eines der regelmäßigen Treffen der Bundesligaklubs aus sechs Vereinen eine Art Interessengemeinschaft „Traditionsklubs“ gebildet, mit dem Ziel, weniger Fernseheinnahmen an die Zweite Liga abzutreten. Mit dabei: Hertha. Kurzfristig geht es jedoch darum, den ersten Ligasieg im Jahr 2016 einzufahren, und der Trainer fragt sich, warum die Rückrunde für Hertha „immer so komisch“ anfange. „Das liegt nicht an mir und der jetzigen Mannschaft“, sagt er. „Da müssen wir eine Analyse der Berliner Luft machen.“ Sogar Pressekonferenzen machen Spaß, denn sie sind purer Dardaismus.