Alte Dame auf der Intensivstation: Kay Bernstein ist Präsident von Hertha BSC
Der 41-jährige frühere Hertha-Ultra setzt sich am Sonntag gegen den Unternehmer Frank Steffel durch – und will den Berliner Fußballverein von innen heilen.

Von einer Sekunde auf die andere war es eine andere Veranstaltung. Da herrschte plötzlich Stadionatmosphäre zwischen den Betonwänden des CityCube. Die Hertha-Mitglieder in den ersten Reihen sprangen auf, reckten beide Arme nach oben, auch Menschen weiter hinten hielt es nicht auf den Stühlen des Sitzungssaals. Der war mit 3150 Teilnehmern so üppig besetzt wie noch keine Mitgliederversammlung von Hertha BSC in all den Jahren zuvor. Die Aufgesprungenen riefen: „Ha, ho, he. Hertha BSC.“ Alle im gleichen Rhythmus. Gemeinsam. Wie in der Kurve. Wie dort, wo der neue Präsident von Hertha BSC herkommt: Er heißt Kay Bernstein.
Die Revolution bei Hertha BSC ist da
Er heißt nicht Frank Steffel. Und auch nicht Marvin Brumme. Mehr Kandidaten waren am Sonntag nach den Arrangements und Rochaden, die das Establishment des Klubs und sein Kandidat Steffel veranstaltet hatten, nicht mehr für das Präsidentenamt übriggeblieben. Und von einer Sekunde auf die andere war klar: Die Revolution ist da. Herthas neuer Präsident war früher Ultra, er kandidierte als selbst ernanntes Kind der Kurve. Er trägt Tattoos. Der 41-Jährige folgt auf Werner Gegenbauer, der Ende Mai nach 14 Jahren im Amt zurückgetreten war.
3016 gültige Stimmen waren abgegeben worden, 1509 reichten demnach für die absolute Mehrheit. Für den Betonmeister Marvin Brumme aus Hellersdorf votierten: 26. Für den Reinickendorfer Unternehmer und Füchse-Präsidenten Steffel stimmten: 1280. Für den Neuköllner Agenturchef Kay Bernstein 1670 Hertha-Mitglieder. Fußballjubel. Der Klang der Basis, der sich in den Ohren des Establishments wie eine vage Bedrohung anhören musste.
Bernstein zeigte sich, wie schon zuvor, emotional. Er holte erst einmal Luft, bevor er sagte: „Vielen Dank für euer Vertrauen. Vielen Dank für eure entgegengebrachte Verantwortung. Unsere alte Dame liegt auf der Intensivstation. Wir können sie von innen heilen. Das geht nur zusammen. Jeder von euch kann mithelfen, damit wir wieder unsere blau-weiße Seele zurückgewinnen. Danke. Und: ha, ho, he.“
HERTHA BSC ! 🔵⚪️
— VICOBERLIN (@VicoAusBerlin) June 26, 2022
Kay Bernstein 💪 #hahohe #herthamv #HerthaBSC #Bernstein pic.twitter.com/T2R91CoQpu
Es hatten am Sonntagmorgen ja eine Menge spannende Fragen im Raum gestanden: Würde Bernstein eine große Anhängerschaft mobilisieren? Wie würde er auftreten? Würde der geübte Redner Steffel die Unentschlossenen im Saal überzeugen?
Nach alphabetischer Reihenfolge trat Bernstein als erster Kandidat ans Mikrofon. Über dem hellblauen Hemd trug er kein Jackett, sondern eine Jacke aus der Hertha-Kollektion. „Ha, ho, he, Herthanerinnen und Herthaner“, begann er seine Vorstellung. 1994 sei er das erste Mal im Olympiastadion gewesen. „Ich hab mich in meiner Zeit als aktiver Fan national organisiert. Ich habe mich acht Jahre in den Dienst unserer Kurve gestellt und alles für Hertha BSC gegeben“, sagte er. Danach habe er ein mittelständisches Unternehmen aufgebaut, das auch mit Hertha zusammenarbeitete: beim Kieztraining etwa, bei der Aufstellung der Mauerzeile vor der Geschäftsstelle. Er stellte klar: „Sollte ich gewählt werden, darf es keinen Klüngel geben zwischen Hertha und Team Bernstein. Es darf keinen Auftrag geben. Das wird es nicht geben. Sollte ich als Präsident gewählt werden, gehe ich raus aus dem operativen Geschäft, um mich ganz dieser Aufgabe zu widmen.“
Seine Verantwortung als Mitglied habe ihn zur Kandidatur getrieben. „Wir haben dieses Wirtschaften zugelassen, wir haben die Klüngelei zugelassen. Unsere alte Dame liegt auf der Intensivstation, eigentlich funktioniert nichts wirklich“, sagte er. Bernstein sprach ruhig, klar. Er wirkte kompetent, nah an den Themen und betonte, dass der Neustart, den alle möchten, nur mit einem Burgfrieden mit der Tennor Holding von Investor Lars Windhorst, dem Aufsichtsrat, allen Gremien, allen Mitarbeitern stattfinden könne.
Dann stellte er seine zehn Punkte für die ersten 100 Tage vor. Bernstein will das Präsidium einschwören, in dem nun in Ingmar Pering und Peer Mock-Stümer zwei Männer sitzen, die sich vorab auf eine Allianz mit Steffel eingelassen hatten. Pering zog nach Steffels Niederlage seine Kandidatur als Vizepräsident zurück. So war Präsidiumsmitglied Fabian Drescher, 39, der einzig übrig gebliebene Kandidat für den Posten. Der Rechtsanwalt hatte sich vorab zur Kandidatur im Tandem mit Bernstein entschlossen. Von 2216 gültigen Stimmen erhielt er 1966. Zudem wurden am Sonntag aus 24 Kandidaten zwei neue Beisitzer gewählt: Tim Kauermann sowie Hans-Joachim Bläsing.
Frank Steffel wirkt weniger echt als Kay Bernstein
Steffel redete sechs Minuten lang frei. Seine Stimme war lauter als die von Bernstein. Sehr viel lauter. Seine Gesten waren die eines Politikers. Das, was er sicher als dynamisch verstanden wissen wollte, klang so, dass eine junge Frau ans Mikrofon trat und sagte: „Ich wollt’ mal fragen, warum Sie so passiv aggressiv zu uns reden?“ Nicht alle Nachfragen parierte der 56-Jährige souverän. Sein Engagement für Hertha wirkte weniger echt als bei Bernstein. Seine Niederlage ist gleichzeitig eine für Aufsichtsratschef Klaus Brüggemann.
Bernstein zählte bei seinen zehn Punkten für die ersten 100 Tage auch die Einigung mit den Gremien auf. Mit einem Blick auf Brüggemann, der Steffel als Gegenkandidaten für Bernstein zuerst rekrutiert und dann dessen gescheitere Präsidiums-Allianz gestützt hatte, sagte Bernstein: „Klaus, wir sind Herthaner. Wir schaffen das.“