„Wer ist Kay Bernstein?“ Warum Karim Benyamina nur äußerlich ein Blau-Weißer ist
Der Berliner Fußballer ist Unions Rekordtorjäger. Derzeit spielt er jedoch im Trikot von Hertha BSC. Einen Tipp fürs Derby am Sonnabend hat er natürlich auch.

Am einfachsten ist Karim Benyamina dort anzutreffen, wo er noch immer irgendwie zu Hause ist: auf Berlins Fußballplätzen. Vorigen Sonntag um 11 Uhr zum Beispiel, als der Wind ekligkalt wehte und Regen fiel, betrat der 41-Jährige in Stollenschuhen und Hertha-Trikot das Amateurstadion im Olympiapark. Die Handschuhe hatte er vergessen, als er zum Warmmachen vom Parkplatz am Glockenturm angehetzt kam. Verbandsliga, Punktspiel der Ü32: Hertha BSC gegen Fortuna Biesdorf. Ein Morgen, an dem man keinen Hund vor die Tür schicken würde. „Ach“, sagt Benyamina, „ich kenn das doch. Ich spiele seit mehr als 30 Jahren Fußball, es ist ja nicht nur Sommer. Wenn ich könnte, würde ich jeden Tag Fußball spielen.“
Es ist klar, für wen Benyaminas Herz beim Berliner Derby schlägt
Fußball ist Benyaminas Leben. Berlin ist Benyaminas Stadt. Und wahrscheinlich ist der 41-Jährige, der beim 1. FC Union Heldenstatus erreichte, als er sich zwischen 2005 und 2011 als furchtlose Tormaschine in die Fanherzen spielte, der einzige Fußballer, der es sich leisten kann, in ein und derselben Saison mal im blau-weißen Trikot der Charlottenburger und mal im rot-weißen Trikot der Köpenicker aufzulaufen: Bei Hertha im Ü32- und Ü40-Team, bei Union in der Traditionself.
Jetzt steht am Sonnabend um 15.30 Uhr mal wieder das Bundesliga-Derby an, aufgeladen mit Hoffnungen, Befürchtungen, Erwartungen, Verpflichtungen und Emotionen von Liebe bis Hass. Zwei Klubs. Zwei Standpunkte. „Vielleicht bin ich so was wie ein Zwischenpunkt“, sagt Benyamina. Wobei ja allen klar sein muss, für welchen Klub sein Herz schlägt.

Es fühlte sich für ihn jedenfalls vor drei Jahren ungewohnt an, ein Hertha-Trikot anzuziehen, als die Ü32 der Spandauer Kickers mit all ihren früheren Profis von Sami Allagui über Chinedu Ede bis Benjamin Köhler oder eben Benyamina im Paket zu Hertha wechselte. Die Kabine in Spandau war aus allen Nähten geplatzt, der Klub aber nicht bereit, ein zweites Seniorenteam anzumelden. Hertha war bereit – und der Deutsch-Algerier Benyamina plötzlich ein Blau-Weißer, äußerlich jedenfalls. „Ich habe kein Problem mit Hertha“, sagt er, „Union sicher auch nicht, weil die ja jetzt regelmäßig gegen Hertha gewinnen. Ich hoffe, dass es mir die Unioner nicht übel nehmen. Aber wir sind einfach ’ne coole Truppe.“
Vorigen Sonntag tat Benyamina beim 7:0-Sieg gegen Biesdorf das, was er früher beim 1. FC Union und all seinen Teams von FC Normannia bis Tennis Borussia, von Berliner AK bis Babelsberg 03 oder FC Viktoria regelmäßig tat: Tore schießen. Das 1:0 erzielte sein Freund aus Jugendtagen im Märkischen Viertel, Ümit Ergirdi. Dann bekam Herthas Ü32 einen Elfmeter zugesprochen. Eigentlich ist Ergirdi sonst der Schütze. Aber im Mittwochstraining hatte er einen Strafstoß verschossen. Benyamina hatte am Sonntag schon zwei, drei Chancen liegen lassen. Er schaute Ergirdi an: „Schießt du?“ Ergirdi dachte: „Karim ist der Stürmer, er soll den Elfer machen“ – und sagte: „Schieß du.“ Benyamina lief also an – und machte den Elfer zum 2:0 sowie später das 5:0 und das 7:0.
Herthas Ü32- und Ü40-Senioren sind jeweils Tabellenführer
Herthas Ü32-Senioren sind in der Verbandsliga nach 13 Spieltagen mit 37 Punkten Tabellenführer. Von den 74 Hertha-Treffern hat Benyamina 29 erzielt, auch wenn er ein paarmal fehlte. Er führt die Torjägerliste an. „Ich hab Ehrgeiz. Ich will in jedem Spiel ein Tor machen. So wie früher“, sagt Benyamina, der auch mal kurz in Algeriens Nationalteam kickte.
Beim 1. FC Union ist er bis heute mit 87 Toren in 213 Einsätzen Rekordtorjäger. Er stieg mit den Köpenickern von der Oberliga bis in die Zweite Liga auf. 2009 war das. Und ja, das Derby 2011 ... Benyamina wird es nie vergessen. Beim 2:1-Sieg der Unioner gegen Hertha wurde das Olympiastadion zum Tollhaus.
Eine Entwicklung wie jetzt, wo der 1. FC Union die Bundesliga-Hinrunde auf Platz zwei abschließt und plötzlich als erster Bayernjäger sogar in der Europa League spielt, wäre seinerzeit, als Benyamina noch keine grauen Schläfen hatte, nur als Hirngespinst durchgegangen. „Ich hab es zur richtigen und zur falschen Zeit zu Union geschafft“, meint der Fußballer, „die Aufstiege waren Weltklasse. Es wäre aber auch geil gewesen, international dabei zu sein.“
Seine Karriere im Herrenbereich hat Benyamina im Mai 2019 mit dem FC Viktoria im Berliner Pokalfinale beendet. Mittlerweile ist er selbstständig, führt die Geschäfte der Flowers-Bar mit Shisha-Lounge und Blumenambiente am Kurfürstendamm. Zusätzlich betreibt er den Burgerladen nebenan samt Vikings-Lounge. Dort, erzählt er, sei er für alles zuständig: auch fürs Reparieren der Lampen oder der Schwingtür. Nur ans Burgermachen habe er sich noch nicht herangetraut.
In der Berlinliga trainiert Benyamina den 1. FC Wilmersdorf
Oft werden die Nächte lang „im Laden“, meint Benyamina, der seit eineinhalb Jahren auch den Berlinligisten 1. FC Wilmersdorf trainiert. Sein bester Freund, Co-Trainer Kwasi Boachie, hatte ihn dort hingelotst. Als der Verein ihn als neuen Coach vorstellte, hatte Benyamina noch nicht mal zugesagt. Dann konnte er nicht mehr anders. Derzeit liegt Wilmersdorf auf einem stabilen Mittelfeldplatz. „Wir haben keinen Druck, wir müssen nicht aufsteigen“, sagt Benyamina.
Beim 1. FC Union behaupten sie auch, keinen Druck zu haben. Natürlich muss der Klub, der gerade erst so weit vorne wie nie in der Bundesliga angekommen ist, nicht Meister werden. „Wenn Union unter den ersten Fünf ist am Ende, würde sich jeder übertrieben freuen“, meint Benyamina. „Meister wär natürlich krass. Aber ich glaube, die Bayern werden sich wieder finden und bestimmt Meister werden.“
Und Herthas Entwicklung? Was denkt Benyamina über das Bundesligateam, das vorige Saison in letzter Sekunde die Klasse hielt und sich jetzt schon wieder in akute Abstiegsnot manövriert hat? Und wie nimmt er Kay Bernstein wahr. „Wer ist Kay Bernstein?“, erkundigt sich Benyamina. Na, Herthas neuer Präsident, der früher in der Ostkurve stand, gerade mit einem neuen Investor verhandelt und seit vorigem Sommer dabei ist, Herthas Zusammenhalt neu zu definieren. „Ich hab ihm noch nicht die Hand geschüttelt“, sagt Benyamina. „Von den Profileuten hat noch nie jemand ein Spiel von uns angeguckt. Dass wir Tabellenführer sind, juckt anscheinend niemanden bei Hertha.“
Am Mittwochabend kickte Benyamina mit der Ü40 von Hertha BSC auf dem Kunstrasenplatz Grabensprung KR1 in Biesdorf bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Zum 9:3-Sieg der Charlottenburger gegen die Fortuna trug er fünf Tore bei. Auch das Ü40-Team ist Tabellenführer. Dort läuft es. Dort kämpfen sie zusammen. In Herthas Bundesliga-Mannschaft sah es tags zuvor beim 0:5 gegen den VfL Wolfsburg anders aus. „Schlimm“, sagt Benyamina. „Die haben viele Spieler gekauft. Aber es findet sich nicht. Es waren zuletzt ja auch viele Trainer da.“
Benyaminas Tipp für das Derby lautet 2:0 für den 1. FC Union
Gibt es denn einen Weg aus dem Dilemma? Benyamina findet, Hertha müsse künftig mehr auf Berliner Jungs setzen, auf die Jugend gucken, konzeptionell nicht so schwanken wie zuletzt: „Berlin hat doch super Fußballer. Man muss ihnen Zeit geben und ihnen vertrauen.“ Präsident Bernstein würde ihm, wenn er Benyamina vielleicht demnächst mal die Hand schütteln käme, da sicher recht geben.
Doch den Kicker, der jetzt auch Geschäftsmann und Trainer geworden ist, bekommt man nicht so schnell zu greifen. Am Sonntag eilte Benyamina nach dem 7:0 zur Kabine im Olympiapark, packte die Tasche, verabschiedete sich zum Testspiel seines Wilmersdorfer Berlinliga-Teams Richtung Sportanlage Volkspark. Der 1. FC besiegte Türkyiemspor. Und am Sonnabend? Sitzt Karim Benyamina beim Derby im Olympiastadion? „Ich denke schon“, sagt er, „wenn ich Karten kriege.“ Sein Tipp lautet: „2:0, Union.“