Medaillenspiegel Olympia : Briten im Freudentaumel
Dieser Montag wird kein normaler Tag sein in London. Manche in der Stadt werden zurückdenken an den 6. August 2011, an den Tag, an dem eine anfangs friedliche Demonstration im Stadtteil Tottenham, deren Teilnehmer Aufklärung über den Tod eines jungen Mannes bei einem Polizeieinsatz forderten, zum Ausgangspunkt heftigster Ausschreitungen im ganzen Lande wurde.
Eine Sternstunde in London
Beunruhigt blickte die Welt auf die verstörenden Bilder aus jener Stadt, die ein Jahr später die Olympischen Spiele ausrichten würde; auf jugendliche Plünderer und brennende Häuser. Nein, normal wird dieser Montag auf keinen Fall sein. Aber der Grund dafür liegt nicht ein Jahr zurück, sondern gerade mal 36 Stunden. In der U-Bahn wird man nicht nachdenkliche, sondern in verzückte Gesichter sehen. Freundliche Menschen werden einen ansprechen im Supermarkt oder am Zeitungskiosk. Sie werden nicht von den „Summer Riots“ reden. Sondern vom „Super Saturday“, der den Gastgebern der Sommerspiele sechs Goldmedaillen bescherte und der Nation eine nächtliche Sternstunde im Olympiastadion, die eine Stimmung im Land erzeugt, die sich mit der Atmosphäre des vergangenen Jahres in keinen vernünftigen Zusammenhang stellen lässt.
Auf dem Wasser fing es an
Es begann am Morgen beim Rudern in Eton. Zunächst siegten der leichte Frauen-Doppelzweier mit Katherine Copeland und Sophie Hosking sowie ein weiteres Boot der Briten, der Vierer ohne, besetzt mit Alex Gregory, Peter Reed, Tom James, Andrew Triggs-Hodge. Beim Bahnradfahren nachmittags gab es in der Mannschaftsverfolgung der Frauen den nächsten großen Erfolg.
Um 21.01 Uhr läutete Jessica Ennis dann die Schicksalsstunde der britischen Leichtathletik im Olympiastadion ein: Getragen vom Gebrüll aus 80 000 Kehlen stürmte die 26-jährige Siebenkämpferin aus Sheffield zum Sieg im abschließenden 800-Meter-Lauf und sicherte sich mit gewaltigen 306 Punkten Vorsprung vor Lilli Schwarzkopf die von ihr und ihren Landsleuten so ersehnte Goldmedaille.
Als das Cover Girl dieser Spiele sich, in den Union Jack gehüllt, vor Freude und Rührung lachend-weinend auf die Ehrenrunde begab, lief bereits der sechste und letzte Durchgang im Weitsprung der Männer. Er brachte die Gewissheit eines weiteren Olympiasiegs, dank Greg Rutherford aus Milton Keynes. Er war im vierten Versuch 8,31 Meter weit geflogen und gewann vor dem Australier Mitch Watt und dem US-Amerikaner Will Claye.
Beifall von den Royals
Die Volksfeststimmung im Stadion ebbte nicht ab. Auch Prinz William und Kate, Herzogin von Cambridge, kamen aus dem Klatschen und Jubeln nicht mehr heraus. Denn ein weiterer Liebling der Nation machte sich auf seinen 10 000 Meter langen Weg zum olympischen Ruhm: der 29-jährige Mo Farah. Mit acht Jahren, kaum eines Wortes Englisch mächtig, war er als Bürgerkriegsflüchtling aus Somalia ins Geburtsland seines Vaters gekommen. Nun schüttelte er mit einem langen Sprint in der letzten Runde die Kenianer und Äthiopier ab, breitete vor der Ziellinie die Arme aus und sank als Olympiasieger unter ungläubigem Kopfschütteln auf die Knie. Es war noch nicht einmal 22 Uhr.
Weniger als eine Stunde war vergangen, seit Jessica Ennis mit entschlossener Miene die Laufbahn betreten hatte. „Unsere größte olympische Stunde“, titelte die Sunday Times tags darauf. Auch der linksliberale, nationalistischer Aufwallungen unverdächtige Independent on Sunday druckte neben dem Bild von Strahlefrau Ennis die der Nationalhymne entlehnte Zeile „Happy and glorious!“ – glücklich und ruhmreich.
Dieser Samstag, an dem das Team GB ausgerechnet in einer olympischen Kernsportart triumphierte, an dem es seine eigene Jahrhunderte alte Leichtathletik-Tradition neu belebte, an dem es hinter den olympischen Titanen China und USA auf Platz drei der Nationenwertung sprang, wird sich in das Gedächtnis der Briten einbrennen. Viele zogen noch am Abend singend und feiernd über das Gelände des Olympia-Parks.
Vor allem wird dieser Super Saturday dazu führen, dass sich die Insel ein paar ernsthafte Fragen stellen muss. Sie betreffen das Selbstverständnis dieser alten Sportnation. Denn noch vor kurzem war Großbritannien davon überzeugt, überhaupt nur in einer Disziplin den anderen Ländern überlegen zu sein: im anständigen Verlieren. Jahr für Jahr beobachten die Briten resigniert, dass wieder kein Landsmann im Sommer das berühmte Wimbledon-Turnier gewinnt; auf ihren Tennissieg wartet die Insel seit nunmehr 76 Jahren.
Bradley Wiggins statt Eddie the Eagle
Der letzte große Titel im Fußball, ebenfalls weitgehend eine englische Sport-Erfindung, liegt 46 Jahre zurück. Und wenn es um das Gesicht des britischen Sports ging, dann fiel auch den meisten Ausländern bis Samstagabend vermutlich eher Eddie the Eagle, der skurrile Skispringer ein, als Jessica Ennis, die Siebenkämpferin. Noch vor gut drei Wochen, ehe Bradley Wiggins als erster Brite die Tour de France gewann, sprach die ehrwürdige Times von einem „sehr un-britischen Coup“. Im Radsport sei vorgesehen, dass man als Brite mitmacht – und dann selbstverständlich verliert. Und nun hat eben dieser Bradley Wiggins in London sogar noch Olympisches Gold im Zeitfahren für das Vereinigte Königreich gewonnen.
Athleten mit Geschichte
Zuzugeben ist, dass diese Goldrausch plötzlich über die Briten kam – so ähnlich, wie man das von Masern kennt. Bis Mittwochmorgen, Tag fünf der Spiele, nämlich stand für das Vereinigte Königreich noch eine Null in der Rubrik Gold zu Buche. Der stets nüchterne Guardian legte der Zeitung ein Plakat mit der Aufforderung „Keep Calm and Carry On“ bei („Ruhig bleiben. Weitermachen“). Wenige Stunden später war der Bann gebrochen.
Samstagnacht, im Bus auf dem Weg zurück in die Innenstadt, jedenfalls hatte ein Passagier ein Pappschild mit der Aufschrift „I am Mo“ unter die rechte Achsel geklemmt und bat grinsend um Nachsicht für die Lautstärke der aufgekratzten Meute in seinem Schlepptau. Auch das ist ein Kennzeichen der neuen britischen Sport-Generation: Die Athleten sind alles andere als gesichtslose Hochleistungsroboter, sie haben eine persönliche Geschichte zu erzählen, in der auch Kampf, Zweifel und Niederlagen vorkommen.
„Das ist mein Land, hier bin ich aufgewachsen, zur Schule gegangen, hier hat mein Leben angefangen“, sagte der Langstreckenläufer Mo Farah bewegt, nachdem er noch auf der Kunststoffbahn seine hochschwangere Frau Tania und Tochter Rihanna in die Arme geschlossen und die Huldigungen des Publikums entgegengenommen hatte. Jessica Ennis wiederum war einfach nur erleichtert, dem gewaltigen Druck der Erwartungen, auch ihrer eigenen, standgehalten zu haben. „Ich bin so dankbar, dass mich alle auf diesem Weg unterstützt haben“, sagte sie mit den Tränen kämpfend. Ennis, die Tochter eines Jamaikaners, und Farah, der Bürgerkriegsflüchtling aus Somalia, sind Repräsentanten des bunten Großbritannien und entfalten auch deshalb gewaltige Identifikationskraft im multikulturellen London und weit darüber hinaus. „Es war der Sieg, den das Land am meisten wollte“, schrieb die Sunday Times, als Ennis im siebten Himmel des Siebenkampfs angekommen war.
Dieser Montag wird aus mehr als einem Grund kein normaler Tag im Land sein. Manche werden zurückdenken an den Sommer der Gewalt 2011. Doch der Schatten, den die Krawalle bis heute werfen, wird vielleicht ein bisschen kürzer geworden sein.