Nach dem 4:0 gegen Schweden träumt England vom ersten EM-Titel
Was den Männern 2021 verwehrt blieb, soll nun den Frauen gelingen – der Titel im eigenen Land. Die Erfolgsserie und die Stimmung sprechen für die Lionesses.

Bei ihren Interviews direkt nach dem Spiel mussten die englischen Spielerinnen Kopfhörer tragen, weil der Lärm im Stadion noch lange nach dem Abpfiff ohrenbetäubend war. Englands furioser Einzug ins EM-Finale durch das 4:0 (1:0) der Gastgeberinnen gegen Schweden sorgte nicht nur in Sheffields Bramall Lane und beim Fanfest auf Londons Trafalgar Square für viel Begeisterung. Ganz England freut sich jetzt auf das Endspiel am Sonntag im Wembley-Stadion und träumt vom ersten großen Titel für die Lionesses.
„Wir haben vor dem Turnier gesagt, dass wir die Nation inspirieren wollen, und ich glaube das tun wir“, stellte Nationalcoach Sarina Wiegman nach dem umjubelten Sieg fest. „Wir wollen, dass das Land stolz auf uns ist.“ Wiegman hatte den Titel 2017 als Trainerin der Niederlande gewonnen und könnte den Erfolg mit England wiederholen. Der Finalgegner stand am Dienstagabend noch nicht fest – und war Wiegman auch egal. „Es spielt keine Rolle, gegen wen wir spielen.“
England ist in dieser Form nur schwer zu schlagen
Klar ist: Wenn ihr Team in Wembley so auftritt wie in Sheffield, wird es für jeden Gegner schwer werden. Der Telegraph nannte den Halbfinal-Auftritt etwas brachial eine „Zerstörung der Schwedinnen“. Beth Mead (34. Minute), Lucy Bronze (48.), Alessia Russo (68.) und Fran Kirby (76.) beendeten mit ihren Toren nach drei verlorenen Halbfinals (EM 2012, WM 2015, EM 2017) die Negativserie der Lionesses, die erstmals seit 2009 wieder ein EM-Endspiel erreicht haben.
Dabei hatte England keinen guten Start erwischt. Schon nach einer Minute war Torhüterin Mary Earps bei einem Schuss von Ex-Bayern-Profi Sofia Jakobsson gefordert. Die englische Offensive tat sich schwer. Aber: „Wieder einmal hat die Mannschaft einen Weg gefunden“, meinte Wiegman, die regelmäßig betont, ihre Spielerinnen seien auf alle möglichen Szenarien vorbereitet. „Wir sind besser und besser geworden. Die Spielerinnen auf dem Platz haben Lösungen gefunden.“
Die Reaktionen auf englischer Seite waren euphorisch. „Das ist ein England-Team wie kein anderes“, befand der Guardian und schrieb scherzhaft: „Schnell, überprüft ihre Pässe.“ Auch die frühere Nationalspielerin und BBC-Moderatorin Alex Scott, die 2009 mit England das EM-Finale gegen Deutschland verloren hatte, konnte es kaum fassen. „Kann mich mal jemand kneifen?“, sagte sie, während in der Bramall Lane noch laut gesungen wurde. „Es ist schwer für mich, nicht emotional zu werden.“
Ganz anders bei den Verliererinnen. „Es ist schwer, Worte zu finden, wenn man so deutlich verliert“, sagte Mittelfeldspielerin Sofia Jakobsson. Viele ihrer Teamkolleginnen gingen mit leerem Blick vom Platz, Magdalena Eriksson ließ ihren Tränen freien Lauf. „Das ist im Moment eine unglaubliche Enttäuschung. Wir hatten hohe Erwartungen vor diesem Turnier“, sagte sie. „Es fühlt sich scheiße an“, machte Nathalie Björn klar.
Schwedens Torhüterin Hedvig Lindahl ist geknickt
Geknickt war auch die 39 Jahre alte Torhüterin Hedvig Lindahl, für die es möglicherweise das letzte Länderspiel gewesen ist. Rückblickend betrachtet wäre es vielleicht besser gewesen, nach dem Olympia-Finale im Vorjahr aufzuhören, sagte sie. Schweden hatte den Kampf um Gold damals in Tokio im Elfmeterschießen gegen Kanada verloren. Die Schwedinnen hatten in England zum Favoritinnen-Kreis gezählt, ihr Ziel war der erste EM-Titel seit 1984 gewesen. Die Nachrichtenagentur TT kritisierte, dass die Mannschaft dafür offensiv zu wirkungslos gewesen und in den entscheidenden Momenten nicht da gewesen sei. Der Rundfunksender SVT sprach von einer „Deklassierung“ durch England. „Schweden beendete die EM, indem es gedemütigt wurde“, bilanzierte das Aftonbladet, während der Expressen befand: „Es sollte das heftigste Spiel der EM werden. Aber es wurde ein Albtraum.“
Für England hingegen geht der Traum weiter. Unter den ersten Gratulanten war auch Prinz William. „Das ganze Land ist so stolz auf alles, was ihr erreicht“, schrieb der Thronfolger und Präsident des englischen Fußballverbands bei Twitter. „So stolz war ich noch nie auf ein England-Team“, schwärmte Ex-Nationalspieler Ian Wright beim Sender BBC. Zahlreiche weitere aktive und ehemalige Fußballprofis, darunter Harry Kane, Raheem Sterling, Gary Lineker und Wayne Rooney, gratulierten den Lionesses.
Gelingt den englischen Fußballfrauen am Sonntag, was ihren männlichen Kollegen im letzten Jahr verwehrt geblieben ist? Der EM-Titel im eigenen Land wäre nicht nur die erste große Trophäe für die Lionesses, sondern der größte Erfolg für den englischen Fußball seit dem Gewinn der Männer-WM 1966 – ebenfalls im Wembley-Stadion.
Die Chancen stehen gut. Denn Sarina Wiegman hat aus dem bislang titellosen englischen Nationalteam einen echten Titelkandidaten gemacht. Seit 19 Spielen sind die Engländerinnen ungeschlagen. Und vielleicht wird am Sonntag endlich der Text der ironisch gemeinten englischen Fußball-Kulthymne wahr: „Football’s Coming Home.“