Sebastian Vettel: Keine Kompromisse
Norbert Vettel hat dieser Tage aus gebotenem Anlass eine kleine Geschichte erzählt. Vermutlich weil ihm die Pointe sehr wichtig war, auch nach so vielen Jahren. Die kleine Geschichte stammt aus einer Zeit, in der sein Sohn Sebastian noch ins Gymnasium ging, wohl nicht ganz freiwillig. Aber hörte sich der familiäre Deal nicht verdammt vernünftig an? Wir, deine Eltern und Geschwister, tun alles für dein Hobby Rennsport – solange deine Schulnoten einigermaßen okay sind und du das Abitur schaffst.
Nicht jeder Außenstehende hat den Sinn dieses mustergültigen Balanceaktes dualer Ausbildung offenbar verstanden, weshalb sich Vater Vettel, 52, am Rande der Rennstrecken manch hämischen Kommentar gefallen lassen musste. „Wenn wir erst am späten Freitag anreisten, weil Seb noch in der Schule war, fragten mich einige Väter: Will dein Sohn eigentlich Professor oder Rennfahrer werden?“. So hat es Vettel senior, der gelernte Zimmermann, dem Schweizer Blatt Blick erzählt.
Über die Antwort muss man heute nicht mehr reden. Eher schon darüber, ob der inzwischen zweimalige Formel-1-Champion Sebastian Vettel – wie schon zu Schülerzeiten – in gewisser Weise beides geschafft hat. Kein oder. Der hochtalentierte Rennfahrer Vettel begnügt sich nicht mit dem üblichen Hand- und Fußwerk der Vollgas-Elite, er will und kann mehr. Er will verstehen, wie sein Beruf und sein Umfeld funktioniert. Er ist ein Suchender, ein Findender und ein knallharter Macher, nett getarnt als oft freundlich lächelnder, gern zu Scherzen aufgelegter, untadeliger Sportsfreund. Aber, Vorsicht: Vettel weiß, was er will und was er tun muss – und er tut es. Keine Kompromisse.
Kein Rambo-Image
In dieser Altersklasse hat es nie einen kompletteren Rennfahrer gegeben als diesen frühreifen 24 Jahre jungen Mann, der zwar als Kind des Michael-Schumacher-Booms gilt, sein kongeniales Vorbild jedoch zumindest in der Außendarstellung längst überholt hat. Vettel polarisiert die weltweite Fan-Gemeinde nicht wie die branchenüblichen Heroen der Rambo-Spezies, was angesichts seines manisch wirkenden Sieghungers ein wirklich bemerkenswerter Charakterzug ist. Kann man gleichzeitig so außergewöhnlich gut und so unfassbar sympathisch und charmant sein? Man kann, wenn mal will. Und man kann es lernen, aus einer gewissen Demut heraus.
Rückblende: Saison 2010, Jahr eins der Vettel-Ära, Großer Preis von Ungarn am 1. August. Wegen einer selbstverschuldeten Durchfahrtsstrafe verliert der junge Deutsche den sichergeglaubten Sieg. Auf dem Podium starrt der drittplatzierte Red-Bull-Pilot mit finsterer Miene in die Kameraobjektive. Die Bilder vom offenkundig schlechten Verlierer Vettel gehen um die Welt.
In einem soeben veröffentlichten Interview der Süddeutschen Zeitung wiederholte Red-Bull-Berater Helmut Marko (68) seine damalige mündliche Abmahnung an die Adresse des Angestellten Vettel: „Ich habe ihm gesagt: Das geht nicht! Ein dritter Platz ist etwas, was das Gros der Formel-1-Fahrer nie erreicht. 500 Leute haben hart dafür gearbeitet, dass du ein Auto hattest, mit dem du alle überrunden konntest. Denen kannst du nicht so ein Gesicht zeigen! Es war dein Fehler! In so einem Moment muss man die Stärke haben, sich aufrecht hinzustellen. Seither ist so was nie mehr passiert.“
Aufrecht hinstellen müssen hat sich Vettel schon vier Wochen später, am 29. August. Großer Preis von Belgien. Bei einem aggressiven Überholversuch räumt Vettel seinen McLaren-Konkurrenten Jenson Button von der Ardennen-Piste. Zum ersten Mal fällt ein Teil der Weltpresse und deren sogenannte Experten, darunter auch ehemalige Formel-1-Piloten, über Vettel her. Der Heppenheimer reagiert konsterniert, zieht sich – vermeintlich zum Schmollen – so weit es geht, aus der Öffentlichkeit zurück. Später wird er sagen, er habe in dieser Phase des Reflektierens auch sein direktes Umfeld neu sortiert.
Vettel übernimmt Verantwortung
In Wahrheit aber wohl doch auch sich selbst. Vettel übernimmt in der entscheidenden Phase des für ihn scheinbar aussichtslosen Titelkampfs Verantwortung, zeigt innerhalb des Teams ungeahnte Leaderqualitäten, mit 23 Jahren. Wie Vettel 2010 in Korea (in Führung liegend wegen eines Motorschadens ausgefallen) die offenkundig deprimierte Red-Bull-Mannschaft auf den noch möglichen Titelgewinn einschwor, davon schwärmt Marko noch heute: „Das war einmalig, weil es aus dem Wissen kam, was er bewegen kann.“
Wohin das noch führen wird, lässt sich – abgesehen von zu erwartenden Rekorden – schwer absehen. Vettel liegt in etlichen Statistiken der Formel-1-Geschichte als jüngster Teilnehmer auf Platz eins. Doch mit Statistiken allein wird man dem ungewöhnlichen Naturell kaum gerecht. Red-Bull-Designer Adrian Newey bescheinigt dem Champion ein „beinahe inquisitorisches Gehirn“, Teamchef Christian Horner spricht von einer „unheimlichen Reife“, Ex-Weltmeister Niki Lauda wähnt den jungen Nachfolger bei der Suche nach Superlativen „immer außerirdischer“ und fügt wahrheitsgemäß hinzu: „Obwohl er nie abhebt.“ Wie schafft Vettel das nur?
Natürlich in erster Linie, weil er nicht der in aller Öffentlichkeit aufscheinenden Magie erliegt, ihm sei das Talent, die mühelos wirkende Leichtigkeit des Erfolgs und die siegbringende Technik einfach so zugeflogen. Vettels Werk ist das glorreiche Destillat einer permanent unter Dampf stehenden Ideen-Maschine namens Formel 1, deren Berufsbild von Jahr zu Jahr komplexer geworden ist.
Michael Schumacher hat sich in seinen allerbesten Jahren diesen High-Tech-Trend zunutze gemacht. Keiner trainierte härter, lernte eifriger und verbissener, als der Ur-Vater des deutschen Formel-1-Wunders. Sein erklärter südhessischer Nachfolger hat das Rad weiter gedreht, denn die Strategien sind aufgrund der technischen Möglichkeiten noch vielfältiger und verwirrender geworden. Und Vettel ist keiner, der sich gerne sagen lässt, wann er den Heckflügel flachzustellen, den Knopf für den elektrischen Extra-Schub namens Kers zu drücken, oder wie er die empfindlichen superweichen Reifen zu behandeln hat.
Vettel nimmt die Dinge selbst in die Hand
Vettel hat früh gelernt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Legende ist, wie er 2002 bei einem Nachwuchsrennen der Formel BMW den damaligen Motorsport-Direktor des Konzerns, Mario Theissen, am Ärmel zupfte und sich mit den Worten vorstellte: „Ich bin der Sebastian, nächstes Jahr fahre ich hier mit.“ Vettel trug damals noch eine Zahnspange, wirkte unglaublich lausbubenhaft, gar „ein bisschen milchig“, wie sich Helmut Marko an eine Begegnung im Jahr 2003 erinnert. Damals ging es um die Aufnahme in das Red-Bull-Junior-Team, und letzten Endes um die Finanzierung der Vettelschen Karriere. Was Marko damals noch aufgefallen ist, war Vettels Art, Fragen zu stellen. Für den Geldverteiler des Red-Bull-Konzerns stand fest: „Da weiß einer, wie seine Zukunft aussehen soll.“
Seltsamerweise ist Marko nicht der einzige Österreicher, dem Vettels Abgeklärtheit und Souveränität früh auffiel. „Sebastian ist ein ganzheitlicher Fahrer. Er hat den Speed, die Intelligenz, die Einstellung und die Außendarstellung“, urteilte der ehemalige BMW-Teamchef Gerhard Berger. Kaum zu glauben, dass sich die Bajuwaren die Verpflichtung dieses idealen Markenbotschafters einst entgehen ließen. Vielleicht hat Mario Theissen zu konservativ gedacht. In einem so großen Team hätte es mit der Karriere „schnell vorbei sein können“, meinte Theissen.
Vielleicht hätte Theissen merken müssen, dass Vettel anders ist als andere anderen. Zielstrebig, aber dennoch bescheiden. Bescheiden, manchmal gar schüchtern wirkend, aber keinesfalls beschränkt. Erstaunlich offen und unfassbar neugierig und extrem lernfähig und das aufgeblasene Metier klug durchschauend. Auch das könnte erklären, weshalb einer wie Vettel keinen Manager braucht. Und sein Privatleben sorgfältig abgeschottet. Man weiß nur, dass er auf einem Bauernhof in der Schweiz lebt und seine Freundin Hanna seltener sieht als seinen finnischen Physiotherapeuten. Warum sie nicht zur Rennstrecke kommt? „Würden Sie Ihre Frau zur Arbeit mitnehmen?“, antwortet Vettel mit einer Gegenfrage. Keine Kompromisse.