Singen bei Union Berlin: Weihnachtssänger an der Mittellinie
Die erste Anfrage erreichte Torsten Eisenbeiser Ende März aus Hamburg. Ob denn das Weihnachtssingen in der Alten Försterei auch dieses Jahr stattfindet? Klar, was denn sonst, hat der 50-Jährige geantwortet. Eisenbeiser muss es wissen, er ist der Erfinder und Organisator der deutschlandweit einmaligen Veranstaltung. Seit zehn Jahren treffen sich immer am Abend des 23. Dezember Fans des Fußballclubs 1. FC Union Berlin in ihrem Stadion in Köpenick zum Weihnachtssingen. Sie singen so lange, wie ein Fußballspiel dauert, 90 Minuten plus Nachspielzeit, aber ohne Halbzeitpause. Im vergangenen Jahr kamen 21 500 Sänger, diesmal könnten es 27 000 werden.
Dabei hatte Torsten Eisenbeiser, Außendienstleiter einer Kaffeefirma und Anhänger von Union seit 1969, mit seiner Idee gar keine Großveranstaltung im Sinn. Es war kurz vor Weihnachten 2003, als er das gemeinsame Singen einigen anderen Fußballverrückten vorschlug. Nicht aus besonderer Sentimentalität, sondern aus der Not eines leidenden Fußballfans heraus: Ihre Mannschaft verlor damals ein Spiel nach dem anderen, die Zuschauer waren nur noch frustriert. „Da habe ich mir gedacht, wir sollten uns vor dem Fest noch mal treffen, uns den Ärger von der Seele singen und uns dann anständig ins Fest verabschieden.“ Eisenbeiser kopierte also ein paar Weihnachtslieder und schlich mit 88 weiteren „Eisernen“ am Abend heimlich ins leere Stadion. Auf der damals maroden Stehtribüne in Höhe der Mittellinie, wo sie sonst die Spiele verfolgen, sangen sie los.
Die Zahl der Stadionsänger hat sich seither fast im Jahrestakt verdoppelt. Viele Unioner bringen ihre Familie und Bekannte mit, die sonst nie in ein Stadion gehen. Einige Spieler kommen auch und selbst Herthaner mit blau-weißen Schals singen regelmäßig mit. Manche Teilnehmer reisen extra für das Weihnachtssingen aus Hamburg, Aachen oder dem Ruhrgebiet an, auch Teilnehmer aus Dänemark, Schweden und Österreich finden inzwischen den Weg in die Wuhlheide. „Unsere Unionfamilie heißt alle herzlich willkommen in unserem Wohnzimmer, dem Stadion“, sagt Eisenbeiser.
Seit 2004 ist sogar ein Pfarrer dabei, der in der Atheisten-Hochburg Köpenick die Weihnachtsgeschichte vorliest. Auch das war eine Idee Eisenbeisers. Er bezeichnet sich zwar als „Heiden“, mag aber die Besinnlichkeit eines Gottesdiensts. „Und wer möchte, spricht am Ende auch das Gebet mit“, sagt er. Es ist immer derselbe Pfarrer, der zu den Fans kommt. Angebote prominenter Kirchenmänner, vom katholischen Kardinal und vom evangelischen Bischof, wurden abgelehnt.
Eisenbeiser selbst wird am Abend dieses 23. Dezember kaum Zeit für Besinnliches haben. Er kümmert sich darum, dass die Spendenbüchsen, die überall im Stadion aufgestellt sind, geleert werden. Das Geld ist für den Nachwuchs von Union. Aber für einen Augenblick wird auch Eisenbeiser besinnlich: „Wenn Punkt 19 Uhr das Flutlicht ausgeht und die Kinderaugen im Kerzenschein erwartungsvoll leuchten, kriege ich immer noch Gänsehaut.“