Paris-Es ist anders gewesen in diesem Jahr beim Finale der Tour de France. Stürmisch ging es zu beim traditionellen letzten Sprint. Leerer aber war es entlang der Champs-Elysees, weil ja immer noch Corona herrscht in Frankreich und die Bestimmungen rigide sind. Doch so ließ der bescheidene Rahmen die neueste Heldengeschichte der legendären Rundfahrt noch ein wenig stärker hervortreten: die Geschichte des Tadej Pogacar, der man eine längere Halbwertzeit gönnt als der vieler Tour-Sieger vor ihm, die mit Doping aufgeflogen sind.
Die ersten nennenswerten Sätze in der Geschichte des Tadej Pogacar fielen in tiefer Finsternis auf der Planche des Belles Filles. „Ich bin doch nur ein Junge aus Slowenien. Ich habe zwei Schwestern und einen Bruder. Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll“, meinte der 21-Jährige schüchtern, als ihn Journalisten um eine Bewertung seiner bemerkenswerten Leistung baten. „Ich möchte Spaß haben, das Leben genießen, die kleinen Dinge. Schon diese Pressekonferenz ist zu groß für mich.“
In den Kneipen der slowenischen Hauptstadt Ljubljana begossen sie den ersten Tour-de-France-Champion der kleinen Alpennation mit reichlich Pivo, die Zeitungen feierten ihren „Turbo-Pogi“. Er ist der jüngste Sieger der Frankreich-Rundfahrt seit 1904, seit Henri Cornet. Der war 19 Jahre, elf Monate und 20 Tage alt bei seinem Triumph. Allerdings errang er diesen Sieg erst nachträglich, weil die ersten vier Abkürzungen genommen oder die Strecke per Bahn zurückgelegt hatten, was nach dem Finale bewiesen werden konnte.
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Pogacar lieferte am Sonnabend ein unerwartetes Meisterstück beim hammerharten Bergzeitfahren an der berühmten Planche ab, wo er seinem Landsmann Primoz Roglic den Tour-Sieg entriss. „Er war viel besser als ich, er verdient das so sehr“, sagte der unterlegene Roglic. Eine Erklärung für das in den Vogesen Geschehene hatte auch er nicht.
Pogacar schrieb Geschichte, gleich mehrfach, er ist der erste Fahrer überhaupt, der die Trikots in gelb (Gesamtwertung), weiß (bester Jungprofi) und gepunktet (Bergwertung) in einem Jahr gewann. Am Sonntag in Paris durfte er nicht nur den Tour-Sieg begießen, sondern obendrein in seinen 22. Geburtstag reinfeiern. Da kann einem jungen Kerl schwindlig werden.
Der Höhenflug des Profis aus dem oberkrainer 6000-Einwohner-Nest Komenda ist atemberaubend und verfügt daher über eine große potenzielle Fallhöhe. Pogacar liefert den Stoff für Mythen: Knirps hat einen Traum, hat Talent, arbeitet hart, wird früh belohnt, begründet eine Ära. Wobei sich Letzteres erst zeigen wird. Vor zehn Jahren, erzählte er jedenfalls, habe er „den ganzen Tag die Tour-Etappen mit Alberto Contador verschlungen und bin sie dann nachgefahren“. Erst seit 2019 ist er Profi beim UAE-Emirates-Team und demütigte nun bei seiner Tour-Premiere Kumpel Roglic auf dessen Lieblingsterrain, nahm ihm am Sonnabend fast zwei Minuten ab.
Reihenweise brach Pogacar die Kletterrekorde an den Tour-Anstiegen, sorgte für schieres Erstaunen. „Das war eine der besten Leistungen, die wir jemals im Radsport gesehen haben. Eine unglaubliche Leistung“, schrieb Lance Armstrong bei Twitter. Ausgerechnet jener Lance Armstrong, den der Sportinformationsdienst als „Jahrhundertdoper“ bezeichnete. Pogacar und auch Roglic seien „von einem anderen Planeten“, meinte der Tour-Dritte Richie Porte, die Leistungen der beiden seien „bloody good“ und „furchteinflößend“ gewesen.
Andere äußerten deutlicher zu Pogacars irrsinnigem Zeitfahr-Auftritt ihr Unbehagen. „Er hat Roglic völlig zerstört. Eine unglaublich starke Leistung. Hoffen wir, dass wir uns auch noch in fünf Jahren darüber freuen dürfen“, unkte TV-Experte Jens Voigt am Eurosport-Mikrofon.
Pogacar muss sich nicht rechtfertigen, gegen ihn liegen keine Verdächtigungen vor, die ernst zu nehmende Grundlagen hätten. Dass seine Leistungen kritisch beäugt werden, damit muss er aufgrund der Doping-Historie im Radsport leben. Die meisten Tour-Sieger der zurückliegenden Jahrzehnte standen in irgendeiner Weise mit Sportbetrug in Verbindung.
Leben muss er auch damit, dass sein Dasein künftig nicht mehr das bisherige sein wird, dass viel auf ihn, den Jungen aus Slowenien, einprasseln wird. „Die Dinge werden sich für mich verändern. Ich will versuchen, der Gleiche zu bleiben“, sagte er. Und noch bevor diese Tour ein Ende gefunden hatte, nahm er sich das nächste Ziel vor: „Jetzt will ich zur WM nach Imola fahren.“ Und wieder alle sprachlos machen.