Tennis in Wimbledon: Tatjana Marias Märchen geht weiter

Die Deutsche gewinnt das Viertelfinale in einem Drei-Satz-Krimi gegen ihre Landsfrau Jule Niemeier und ist nur noch zwei Siege vom Sensationstriumph entfernt.

Jule Niemeier (r.) gratuliert der zwölf Jahre älteren Tatjana Maria (l.) zum Einzug ins Halbfinale des Tennisturniers in Wimbledon.
Jule Niemeier (r.) gratuliert der zwölf Jahre älteren Tatjana Maria (l.) zum Einzug ins Halbfinale des Tennisturniers in Wimbledon.AP/Kirsty Wigglesworth

Zuerst ließ sie den Tennisschläger fallen. Dann schlug Tatjana Maria die Hände vors Gesicht und drückte Jule Niemeier mit einer innigen Umarmung fest an sich. Dank ihrer beeindruckenden Nervenstärke hat die 34 Jahre alte Maria ihren märchenhaften Weg in Wimbledon im deutschen Viertelfinale fortgesetzt und den großen Traum ihrer zwölf Jahre jüngeren Gegnerin beendet. Die zweifache Mutter gewann am Dienstag in 2:17 Stunden einen Tennis-Krimi mit 4:6, 6:2, 7:5 und erreichte erstmals in ihrer langen Karriere das Halbfinale bei einem Grand-Slam-Turnier. Nur zwei Siege fehlen ihr damit noch zum Sensationstitel.

„Ich habe überall Gänsehaut. Es war so ein schweres Match gegen Jule“, schwärmte Maria unter dem Jubel der Zuschauer. „Heute haben wir Deutschland wirklich stolz gemacht.“ Niemeier verabschiedete sich nach dem größten Erfolg ihrer Karriere dennoch stolz und formte mit den Händen ein Herz.

Größter Erfolg für Maria ein Jahr nach der Entbindung

Maria kassiert für ihren Erfolg umgerechnet 622.000 Euro Preisgeld und trifft nun auf die Siegerin der Partie zwischen der Weltranglistenzweiten Ons Jabeur aus Tunesien und Marie Bouzkova aus Tschechien. Sie ist nach den früheren Siegerinnen Steffi Graf und Angelique Kerber sowie Sabine Lisicki, Julia Görges und Bettina Bunge die erst sechste deutsche Halbfinalistin in der Geschichte des Profitennis in Wimbledon. „Es ist ein Traum, das mit meiner Familie und meinen zwei kleinen Töchter zu leben“, sagte Maria und erinnerte an die Geburt von Cecilia Anfang April 2021. „Vor gut einem Jahr habe ich entbunden. Es ist verrückt.“ Völlig verrückt.

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Einige Schritte hinter ihrer Bundesligakollegin des TC Bredeney aus Essen ging Tatjana Maria vor Spielbeginn auf Court 1, beide Spielerinnen fokussierten das, was da kommen sollte, mit konzentriertem Blick. Lächelnd posierten sie beim gemeinsamen Foto am Netz.

Beim letzten Schluck aus der Wasserflasche auf der Bank klopfte Niemeier auf die Handtücher an ihrer Seite, grinste in Richtung ihres Anhangs und erwischte dann einen Traumstart. Mit ihrer kräftigen Vorhand setzte sie Maria früh unter Druck und nahm der Gegnerin direkt den Aufschlag ab. Als beste Returnspielerin des bisherigen Turniers hatte Niemeier schon zuvor in mehr als der Hälfte der Fälle ein Break geschafft.

Mit Angriffslust attackierte auch Maria am Netz und kämpfte sich langsam in die Partie. Die 34-Jährige hatte auch vor dem Match auf ihre normale Wimbledon-Routine gesetzt: Um halb neun stand zunächst das Training für die achtjährige Tochter Charlotte an, bevor sich Maria mit ihrem Ehemann und Trainer Charles-Edouard selbst warm spielte. „Ich habe meine zwei Kinder, diese Ablenkung tut mir gut. Alles ist normal bei uns, nichts hat sich geändert“, sagte sie kurz vor dem Spiel beim Fernsehsender Sky und berichtete von einem entspannten Verhältnis zu ihrer Kontrahentin: „Wir gehen auf den Platz, wollen beide gewinnen und werden alles geben. Und danach ist auch alles wieder okay.“

Maria schafft den Ausgleich per Volley auf den Knien

Beide Spielerinnen blieben im weiteren Verlauf des ersten Durchgangs stabil bei eigenem Aufschlag. Marias gefürchteter Slice, dieser eklige Unterschnitt, der ihre namhaften Gegnerinnen zuvor zur Verzweiflung gebracht hatte, sprang nicht so scharf ab wie gewohnt, und obwohl Niemeier etliche Doppelfehler servierte, lief Maria im ersten Satz einem frühen Break vergeblich hinterher. Niemeier sicherte sich nach nur 43 Minuten durch einen Returnfehler von Maria den Auftaktsatz.

Niemeier blieb dran. Vier Breakbälle erarbeitete sich die Anhängerin von Borussia Dortmund im ersten Aufschlagspiel Marias – und schaffte per perfekt platziertem Rückhand-Passierball das 1:0. Mehrfach hatte sich Dauerläuferin Maria in diesem Turnier aus ausweglosen Situationen befreit und zeigte erneut ihr Kämpferherz. Per Volley im Knien schaffte sie den Ausgleich, ihr Mann auf der Tribüne jubelte. Auch unterstützt von mehreren Doppelfehlern und leichten Patzern Niemeiers übernahm Maria das Kommando, führte schnell 4:1. Der Satzball geriet spektakulär: Niemeier schlug den Ball im Rückwärtslaufen durch die Beine, Maria verwandelte per Volley eiskalt.

Es wurde ein Krimi. Niemeier breakte im entscheidenden Satz zum 3:2, blieb aber zu passiv und musste nach einem leichten Volleyfehler das 4:4 hinnehmen. Plötzlich war Maria wieder obenauf, zwei Punkte fehlten zum Matchgewinn, Niemeier blieb nervenstark und trieb das Publikum an. Nach einem unfassbar umkämpften Ball beim Stand von 5:5 mit besserem Ende für Maria erhoben sich zahlreiche Fans – und bejubelten wenig später die Siegerin.

Niemeier darf sich mit 310.000 Pfund Preisgeld trösten, sie verdoppelt damit ihre bisherigen Einnahmen. Punkte für die Weltrangliste bekommt sie nicht, die waren dem Turnier nach dem Ausschluss russischer und belarussischer Spielerinnen und Spieler entzogen worden. Für das Hauptfeld bei den US Open braucht die Nummer 97 im Ranking daher in den kommenden Wochen gute Ergebnisse. Ihr überraschender Lauf in Wimbledon dürfte Niemeier das Selbstvertrauen dafür geben.