Tour de France: Damit aus der großen keine enttäuschte Liebe wird
Das Verhältnis des deutschen Publikums zum berühmtesten Radrennen der Welt hat sich entspannt. Denn wer sich keine Illusionen macht, kann unbeschwert zuschauen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Erfolg einer sportlichen Großveranstaltung zu messen. Er lässt sich am Zuschauerinteresse zum Beispiel ablesen. Geht es danach, befindet sich die Tour de France auf einem guten Weg, was ihre Konsumenten in Deutschland anbelangt. Die Einschaltquoten in den zurückliegenden drei Wochen konnten die ARD zufriedenstellen. Der Marktanteil lag meist über zehn Prozent.
Ob ein Sportereignis als erfolgreich gelten kann, hängt auch mit der Zahl der positiven Dopingtests zusammen, im Radsport zumal angesichts seiner vertrackten Historie. Wenn die Frankreichrundfahrt an diesem Sonntag zum Finale auf die Pariser Champs-Élysées einbiegt, wird sie keinen Fahrer eingebüßt haben, der sich beim Gebrauch unerlaubter Mittel oder Methoden erwischen ließ. Seit sieben Jahren liegt diese Quote nun schon bei null, ist den Dopingfahndern während des Rennens kein radelnder Betrüger mehr ins Netz gegangen.
War die diesjährige Tour de France somit ein voller Erfolg? Ein zuverlässiges Urteil dürfte kaum zu fällen sein. Allerdings ergänzen sich die beiden Quoten – in Fernsehen und Dopingfahndung – zu einem Indiz. Dafür, dass sich hierzulande die Perspektive auf die Tour verändert hat. Aus dem verklärten Blick um die Jahrtausendwende nach dem Gesamtsieg Jan Ullrichs 1997, dem ersten deutschen Triumph beim berühmtesten Radrennen der Welt, scheint inzwischen ein realistischer Blick geworden zu sein.
Niemand wird noch so naiv sein, anzunehmen, dass keine positive Dopingprobe damit gleichzusetzen ist, dass nicht gedopt wird. Dieses Missverständnis mochte 1998 noch vorgeherrscht haben bei der Skandal-Tour mit der Équipe Festina im öffentlichen Fokus, als auch unter tatkräftiger Mitarbeit deutscher Medien der Eindruck entstehen konnte, Doping sei ein Problem der anderen: der Franzosen, Spanier, Italiener, Belgier oder Niederländer.
Ob mit oder ohne Beschleuniger – die Faszination bleibt
Dabei fuhr das Team Deutsche Telekom stets fleißig vorne mit. Als die Bonner Crew schließlich selbst aufflog samt ihrem Kapitän Jan Ullrich, schlug die große Liebe in eine enttäuschte Liebe um. Das Eventpublikum wandte sich ab. Die ARD zog sich aus der Liveberichterstattung zurück. Der zwischenzeitliche Trikotsponsor des Rennstalls wurde zum öffentlich-rechtlichen Bedenkenträger.
Wie es aussieht, scheint sich die gestörte Beziehung normalisiert zu haben und die Erkenntnis um sich zu greifen, dass die Tour zuallererst eines ist: eine gigantische Unterhaltungsshow mit extremen Leistungen vor extremer Kulisse. Deshalb gehören die Erfolgsquoten im Fernsehen und in der Dopingfahndung als gegenläufige Kurven fest zusammen. Niemand lässt sich gern die Darbietung verderben durch unappetitliche Details von Blutpanscherei oder ausufernden Medikamentengaben. So wie niemand wirklich wissen möchte, dass die Stimme seines Lieblingssängers nur technisch verstärkt gut rüberkommt. Klingt schön, passt schon.
Mit diesem moralisch entspannten Angang lässt sich die Tour gut genießen. Denn solch ein Sturm hinauf nach Alpe d’Huez bleibt spannend, egal wie er zustande kommt. Ob mit oder ohne Beschleuniger, mit fünf km/h im Durchschnitt mehr oder weniger. Eine wilde Hatz im Massensprint durch eine geschlossene Ortschaft mit weit mehr als der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fesselt sogar einen unvorbelasteten Zuschauer. Die Szenerie eines Hochgebirges, akribisch inszeniert und eingefangen aus den Perspektiven mehrerer Hubschrauber, die permanent über dem Fahrerfeld kreisen, verfehlt ihre Wirkung nicht. Und wer selbst einmal im Tour-Tross eine große Schleife durch Frankreich dreht, kann sich kaum der Faszination entziehen, die von dieser Kleinstadt auf Rundreise ausgeht.
Profisport funktioniert nach eigenen Gesetzen. Weil er gewerblich betrieben wird, verdichten sich in ihm die Mechanismen des Wettbewerbs zum Extrem. Womit auch immer sich Leistung steigern lässt, wird dies geschehen. Wo auch immer Erholung zu finden ist, wird sie gesucht. Wie weit auch immer die Grenzen des Erlaubten gesteckt sind, sie werden erreicht – und überschritten. Von einigen zumindest. Das gilt für eine vorsätzliche Strapaze wie die Tour de France insbesondere, deren Zweck genau darin besteht: Grenzen überwinden zum Amüsement des Publikums.
Ist das also die Kapitulation vor der größten Seuche des Hochleistungssports? Keineswegs. Doping bleibt Betrug. Doch jeder sollte wissen, worauf er sich einlässt. Dann wird die große Liebe auch nicht mehr enttäuscht.