Tränen auf der Slalompiste bei Lena Dürr und Mikaela Shiffrin
Die deutsche Rennfahrerin liegt im Olympia-Slalom bis kurz vor dem Ziel auf Goldkurs – und verpasst eine Medaille. Die Amerikanerin verpasst erneut ein Tor.

Peking - Lena Dürr stand abseits. Auf der Kunstschneepiste, die die Chinesen „Eisfluss“ genannt haben, war es doch anders gekommen, als sie gehofft hatte. Nicht in letzter Sekunde, sondern in letzter Zehntel-, ja in den letzten sieben Hundertstelsekunden. Die alpine Skirennfahrerin aus München war Slalom-Olympiasiegerin – bis zur letzten Zwischenzeit.
Sie hatte nach dem ersten Durchgang geführt, hatte im zweiten Lauf im oberen Pistenabschnitt ihren Vorsprung ausgebaut. Aber dann, tja, dann … Dürr hatte Tränen in den Augen, als sie mit ansehen musste, wie andere über die Medaillen im Slalom jubelten. „Es tut grad richtig weh“, sagte sie. Ein kleiner Salzfluss begann sich den Weg aus ihren Augenlidern zu bahnen. „Es war so unfassbar knapp, das ärgert mich am allermeisten.“
Warnschuss vor drei Jahren
Dürr hatte vor ihrer Fahrt im Finale 0,72 Sekunden Vorsprung auf Petra Vlhova, die im Zielraum wartete. Aber sie verpatzte sie die letzte Haarnadel. Platz vier. Medaille weg. Dürr sank in den Schnee. 0,07 Sekunden hinter Platz drei, 0,19 Sekunden hinter der Olympiasiegerin aus der Slowakei. „Wenn man weit weg ist, ist es leichter zu verarbeiten“, sagte Dürr und schob ihre golden umrandete Skibrille wieder über die wässrigen Augen.
Die frühere Skirennfahrerin Hilde Gerg, 1998 mit Slalom-Gold dekoriert, nannte das Rennen ein Spiegelbild von Dürrs Karriere: „Einmal den Rhythmus verloren – das war’s!“ Vor drei Jahren war für Dürr tatsächlich so etwas wie das Aus gekommen. Sie hatte ihren Kaderstatus verloren. Es war eine Art Warnschuss des Deutschen Skiverbandes. Dürr musste selbstständiger werden, eine eigene Trainingsgruppe suchen, ihr Material selbst präparieren. In diesem Winter fuhr sie dreimal hinter Vlhova und Mikaela Shiffrin aufs Podium.
Mikaela Shiffrin rutscht vor dem fünften Tor weg
Spielten ihr die Nerven einen Streich? „Nein, gar nicht, ich war nicht nervös“, versicherte sie. Nach einigen Tagen Training auf dem kniffligen Kunstschnee von Yanqing habe eigentlich alles gepasst: Material, Form, Plan. Sogar die Leistung, wie Techniktrainer Georg Harzl fand: „Das war zu 90 Prozent gut, zehn Prozent waren nicht so gut.“ Dürr sagte: „Man darf sich einfach keine Fehler erlauben, wenn man oben stehen will.“
Überhaupt nicht gut verlief der Slalom auch für die Amerikanerin Shiffrin. Nach dem Aus im Riesenslalom am siebten Tor rutschte sie diesmal nach der vierten Richtungsstange weg. Sie fuhr aus der Bahn, setzte sich auf den Schnee, zog die Beine an, senkte den Kopf auf ihre Knie. Auch sie, die als strahlende, erfolgsverwöhnte Favoritin nach China geflogen war, saß ohne Medaille da. Weit weg vom Ziel. Die Athletin, die als eines der Gesichter der Spiele gilt, wollte ihr Gesicht niemandem zeigen.
Shiffrin vermisst ihren verunglückten Vater
Später, als sie dann unten am Fuß der Piste angekommen war, sah wie Lena Dürr dabei zu, wie neben Vlhova die Österreicherin Katharina Liensberger als Zweite und die Schweizerin Wendy Holdener als Dritte jubelten. Shiffrin sagte, sie vermisse ihren Vater Jeff, der vor zwei Jahren tödlich verunglückte. „Ich würde ihn jetzt gerne anrufen“, sagte sie, er habe sie immer getröstet. Dass das nicht mehr möglich sei, mache es alles noch viel schlimmer. „Ich bin ziemlich sauer auf ihn.“
Shiffrin, sonst die Konstanz in Person, kennt solche Situationen nicht. Auf digitalem Weg versuchte sich ihr Lebensgefährte Aleksander Aamodt Kilde über Instagram als Tröster. Der norwegische Skirennfahrer schrieb zu einem Foto der traurigen Shiffrin im Schnee, zu dem Bild könne man viele Aussagen machen, viele Gedanken haben. Aber: „Es dreht sich alles um das Gleichgewicht und wir sind ganz normale Menschen!! Ich liebe dich Kaela.“
Shiffrin fand noch in den chinesischen Bergen auf der „Eisfluss“-Piste eine gewisse Distanz zu all dem, was dort in Fluss gekommen war. „Ich bin hier nur ein kleiner Tropfen in einem großen Eimer“, sagte sie, „es fühlt sich an, als wäre es alles, aber das ist es nicht.“ Momente des Scheiterns sind immer Momente des Wachsens. Diese Erkenntnis wird auch Lena Dürr mit ein bisschen Abstand für sich in Anspruch nehmen können.