Trübe Aussichten: Deutschlands Leichtathleten haben bei der WM wenig Trümpfe
Ein Jahr nach der mageren Olympia-Bilanz sind die Medaillenchancen für das Team des DLV auch bei den Weltmeisterschaften in Eugene gering.

Seit ihrem Amtsantritt vor gut zwei Jahren ist die deutsche Leichtathletik-Cheftrainerin Annett Stein vor allem als Krisenmanagerin gefragt. Und auch bei den Weltmeisterschaften von Freitag an bis zum 24. Juli in Eugene, Oregon, USA sind die Erfolgsaussichten für den Deutschen Leichtathletik-Verband nach Corona-Krise und Olympia-Enttäuschung eher getrübt. Absagen von Medaillenkandidaten und eine Reihe von Erkrankungen von Topathleten in der Vorbereitung stellen den Aufschwung infrage.
„Es wäre schön, wenn es mehr Medaillen als bei Olympia werden“, sagte Stein. „Wir tun uns mit Zahlen immer schwer, auch wenn ich eine im Kopf habe.“ Großer Rechenkunst bedarf es nicht, um zu erahnen, dass der Gewinn von nur drei Medaillen bei den Tokio-Spielen im US-Bundesstaat Oregon nicht gewaltig übertroffen werden dürfte – wenn überhaupt.
Johannes Vetter sagt die WM wegen einer Verletzung ab
Denn gleich vier Anwärter für das Siegerpodest mussten passen: im Speerwurf Johannes Vetter – WM-Dritter von 2019 – und Europameisterin Christin Hussong, dazu die frühere WM-Zweite im Siebenkampf, Carolin Schäfer, und der Olympia-Zweite im Gehen, Jonathan Hilbert.
Andere Spitzenkräfte wie die zweimalige Hindernis-Europameisterin Gesa Krause und Läuferin Konstanze Klosterhalfen wurden in der WM-Vorbereitung durch eine Erkältung beziehungsweise Corona beeinträchtigt. Die WM-Dritte über 5000 Meter wird in Eugene über 10.000 Meter antreten. Sorgen bereitet zudem Niklas Kaul. Der Zehnkämpfer hatte seit dem WM-Triumph 2019 eine schwere Zeit und mit Verletzungen zu kämpfen.
Besonders wichtig ist deshalb, dass die wenigen Trümpfe stechen. Allen voran Malaika Mihambo: Für die Olympiasiegerin, Welt- und Europameisterin, der mit 7,09 Metern der weiteste Sprung des Jahres gelang, ist die Titelverteidigung jedoch kein Selbstläufer. „Man bekommt nichts geschenkt, deshalb bin ich demütig“, sagte die 28-Jährige. Überhaupt gehe es ihr „nicht mehr so sehr um Medaillen und Titel“. Mihambo sieht den Wettkampf als eine innere Meisterschaft.
Weniger zurückhaltend ist Diskuswerferin Kristin Pudenz (29) aus Potsdam, die beflügelt durch die Olympia-Silbermedaille auch bei der WM zuschlagen will. „Alles andere, als mich als Medaillenkandidatin zu bezeichnen, würde ich nicht machen“, sagt sie. Bei den deutschen Titelkämpfen in Berlin unterstrich sie ihre Ambitionen mit persönlicher Bestweite von 67,10 Metern.
Ebenso wenig will Speerwerfer Julian Weber, 27, tiefstapeln. Er verfehlte bei den Tokio-Spielen Bronze nur um 14 Zentimeter und steht nun im Blickpunkt. „Die Weltelite ist stark, aber ich bin auch stark“, sagt der Berliner. Beim Meeting in Hengelo warf er mit 89,54 Metern so dicht wie nie zuvor an die 90-Meter-Marke. „Ich will weiter werfen und eine Medaille holen“, betonte er.
Auf einem verheißungsvollen Weg ist Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre. Bei den nationalen Titelkämpfen überquerte er erstmals 5,90 Meter und kletterte in der Weltrangliste an die fünfte Position. Der 23-jährige WM-Vierte ist damit in die Weltspitze um den schwedischen Überflieger Armand Duplantis geflogen.
Überraschungen werden dennoch dringend gebraucht. Könnte die vielleicht Gina Lückenkemper gelingen? Die Sprinterin vom SCC Berlin blieb bei den deutschen Meisterschaften im Berliner Olympiastadion über 100 Meter in 10,99 Sekunden erstmals seit vier Jahren wieder unter den 11 Sekunden. Doch in der Weltrangliste liegt sie damit nur auf Rang 32. Sie sagt über die WM: „Es wird schnell. Es wird richtig schnell.“
Lückenkemper, 25, will nach ihrem Training in Florida ihre Bestzeit von 10,95 Sekunden angreifen. „Ich freue mich drauf“, sagt Lückenkemper vor den Vorläufen über die 100 Meter (17. Juli, 2.10 Uhr MESZ).
Gina Lückenkemper fällt die Kinnlade herunter
Seit November 2019 trainiert sie bei Lance Braumann in Florida, an der Seite von Stars wie 200-m-Weltmeister Noah Lyles oder 400-m-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo. Wenn man mit „so vielen genialen und wundervoll inspirierenden Menschen“ trainiert, fällt es leicht, auch mal über die Schmerzgrenze hinauszugehen, sagt Lückenkemper.
Und doch: Die Weltspitze ist enteilt. Jamaikas Weltmeisterin Shelly-Ann Fraser-Pryce hat 10,67 Sekunden hingelegt, selbst die Schweizer Meisterin Mujinga Kambundji rannte 10,89 Sekunden. Und bei den Zeiten der US-Sprinterinnen von den Trials fiel Lückenkemper erst einmal die „Kinnlade“ runter. „Sportschau“-Experte Frank Busemann urteilt: „Das Halbfinale ist Pflicht, mehr bei der derzeitigen Situation ein Wunder.“
Drei Wochen nach der WM folgt die EM in München
„Die WM ist unser Zielwettbewerb Nummer eins. Wir werden danach bemessen, wie viele Trainerstellen und Förderung wir erhalten“, sagte Chef-Bundestrainerin Stein. 2019 in Doha holten die DLV-Asse sechs Medaillen, inklusive zweimal Gold durch Mihambo und Kaul. In Eugene starten etwa 80 deutsche Athleten.
Keine Sorge hat der DLV, dass die Heim-EM drei Wochen später in München für sie emotional attraktiver sein könnte, den absoluten Fokus auf die WM schmälert und die eine oder andere WM-Absage leichter gemacht hat. „Wenn du in Form bist und an den Start gehst, machst du dir keinen Kopf, was drei Wochen später kommt“, sagte Vorstandschef Idriss Gonschinska. „Das würde ich mir zumindest wünschen.“ Vorfreude auf das Heimspiel ist aber da: „Die EM 2018 in Berlin war eine Leichtathletik-Party, die jeder wieder erleben möchte.“