Ultradistanzläufer Kraft Runners: Acht junge Berliner rennen von Los Angeles nach Las Vegas

Ein kurzer Schrei: „Achtung Fußgänger!“ Sieben schwarz gekleidete Menschen preschen an der Frau auf dem Bürgersteig vorbei. Sekunden später stürmen weitere dunkle Gestalten um die Ecke, insgesamt ist es an diesem Abend eine Horde von 27 Läufern. Die Frau starrt weiterhin auf ihr Smartphone, unbeeindruckt. Vielleicht weiß sie, dass sie sich hier jeden Dienstag auf der „Kraftmeile“ befindet, einer Art Rennstrecke im Wohngebiet: Bürgersteig, Kopfsteinpflaster, S-Bahn-Übergang, Supermarktparkplatz, Brücke. Eine Runde ist 1,6 Kilometer lang, eine Meile, Start und Ziel sind am Café Kraft, daher der Name. Aber Pankow ist der Horde nicht genug, acht von ihnen werden durch die amerikanische Wüste rennen − von Los Angeles nach Las Vegas, 550 Kilometer, erwartete Temperaturen laut Veranstalter: -7 Grad in der Nacht bis +38 Grad am Tag.

Am Anfang war es eine Schnapsidee, auf den Punkt gebracht lautete sie: zum Saufen nach Hamburg laufen. „Laufen ist nicht das Langweilige, was jeder im Kopf hat, nur Tunnelblick, abnehmen, gesunde Ernährung“, sagt Eugen Fink, einer der acht, 28 Jahre alt. Im August hat er sich mit Freunden zusammengetan. Sie kannten sich vom Lauftreff eines großen Sportartikelherstellers, für den sie als Tempomacher fungierten. Spaßig, aber nicht fordernd. In ihrem Kopf schwirrte als erste Herausforderung der Berlin-Marathon Ende September. Aber Marco Prüfer, ebenfalls 28, der gerade in den USA weilte, hatte von etwas Extremerem Wind bekommen: dem Staffelrennen vom Pazifikstrand in das Glücksspieleldorado.

Prüfers Café, das er seit drei Jahren führt, weil ihm die Praxiserfahrung lieber war als ein Master in Marketing, wurde zum Treffpunkt, und Mitte Oktober startete ein Sextett am Brandenburger Tor einen Testlauf. Da sie in Deutschland keine Wüste fanden, wählten sie Hamburg als Ziel. Die Begründung lieferte Prüfer: „Da kann man auf jeden Fall feiern.“ Zwar gibt es entspanntere Möglichkeiten auf die Reeperbahn zu kommen, als 21 Stunden lang Bundesstraßen entlangzuhetzen, mitten in der Nacht das GPS-Signal zu verlieren und deshalb durch den Wald zu irren. Aber hinterher wussten Eugen und seine Mitstreiter, „wie schnell und unorganisiert das geht“. Einfach mal drauf los, aus Spaß an der Freude. Ein bisschen verrückt? Mit Sicherheit! Und sie sind stolz drauf.

Nahrung für „Kraft Runners“: Döner

Ultradistanzläufer sind normalerweiser Ausdauererimiten, verbissene Solokämpfer gegen sich selbst. Das Besondere an den „Kraft Runners“, wie sie sich nennen, ist, dass sie eine Mannschaft bilden. Die Wüste wird als Staffel durchquert, wer nicht läuft, feuert an oder ruht sich im Wohnwagen aus.

Auch die 282 Kilometern nach Hamburg waren in Zehn-Kilometer-Abschnitte unterteilt und Läufer immer von einem Teamkollegen auf dem Fahrrad begleitet worden. Die anderen fuhren in „einem viel zu kleinen und viel zu voll gepackten Auto“ zu den Wechselpunkten. An den Hamburger Landungsbrücken angekommen gab es Döner, im Hotel wurde vorgeglüht, dann die zweite Nacht hintereinander durchgemacht. Dieses Mal tanzend.

Es gibt keine Verlierer

Jugendliches Partyleben mit sportlicher Leistungsfähigkeit zu vereinen, das trifft einen Nerv. „Geil ballern“, nennen es die Kraft Runners, wenn sie um die Häuser rennen. Zu ihren öffentlichen Trainings laden sie auf Facebook ein, immer dienstags. Manchmal auch am Sonntag. Dann wird das Event mit Essen und Trinken aufgepeppt. Bis 54 Teilnehmer kamen schon zusammen, manche kamen direkt aus dem Berghain. Die grundlegende Frage, die sich bei einem der ersten Treffen im Café stellte, war: „Wie können wir das Training so gestalten, dass jeder Spaß hat und gefordert wird“, sagt Marco Prüfer. „Und sich nicht zurückgelassen fühlt“, fügt Eugen Fink an. „Der Rundkurs führt dazu, dass es keinen Verlierer gibt.“

Nach jeder Runde wird kurz pausiert, Ankömmlinge werden abgeklatscht, Startende angefeuert. Eine Stunde lang bejubelt man sich an der Kreuzung vor dem Café gegenseitig. Fast alle hier sind in den Zwanzigern, älteren Körpern würde dieses Party-Renn-Gemisch wohl nicht gut bekommen. Denn die abgerufenen Zeiten sind nicht ohne. Die schnellste Gruppe rennt die Meile in einem Kilometerschnitt von 3:26 Minuten.

Ganz vorne dabei ist Stephanie Platt, die einzige Frau im Team, das am kommenden Freitag um 5 Uhr morgens Ortszeit am Santa Monica Pier in L.A. aufbrechen wird.„Es ist genau das, was ich vermisst habe, seit ich nicht mehr im Verein bin“, sagt sie. Als Jugendliche ist sie für die LAV Bayer Uerdingen/Dormagen zwei Mal Deutsche Meisterin geworden und besiegte dabei die letztjährige Olympiateilnehmerin Gesa Felicitas Krause. Inzwischen arbeitet Platt in Berlin als Designerin. Jetzt ist es der „Fun-Faktor“, der die 26-Jährige begeistert. Spätestens nach 42 Stunden Rennerei wollen die acht auf sich und die Wüstendurchquerung anstoßen.

Parallel wird auch in Berlin gefeiert werden, denn die Horde wächst. Unter dem Namen „mehr kraft für KRAFT“ haben sich 130 Läufer verabredet: Sie wollen so lange durch Berlin rennen, bis die acht in Las Vegas ankommen. Eine feste Strecke gibt es nicht, stündlich wird eine U- oder S-Bahnstation angelaufen, an der jeder ein- oder aussteigen kann.