Warten auf die Zeitenwende: Ist Hansi Flick noch der richtige Bundestrainer?

Die Nationalmannschaft fängt 2023 wieder da an, wo sie 2022 aufgehört hat. Ist Hansi Flick der Elefant im Raum? Ein Kommentar.

Skeptischer Blick Fußball-Bundestrainer Hansi Flick beim Spiel gegen Belgien
Skeptischer Blick Fußball-Bundestrainer Hansi Flick beim Spiel gegen BelgienChristian Charisius/dpa

Vor einem Jahr war die Fußballwelt hierzulande noch ganz in Ordnung: Die Bayern fungierten routiniert als Bundesliga-Tabellenführer, Bielefeld und Fürth platzierten sich artig auf den Abstiegsplätzen, der DFB hatte gerade einen neuen Präsidenten und mit Bernd Neuendorf und tatsächlich fünf Frauen ins Präsidium gewählt, der Ballast der Vergangenheit war plötzlich weg, die Fenster wurden aufgerissen, um frische Luft hineinzulassen; selbst die notorisch mit dem Dachverband verzankte Deutsche Fußball-Liga (DFB) gab mal Ruhe und wollte sogar Frieden stiften; die Nationalmannschaft holte, angeführt von einem formidablen Jamal Musiala, ein respektables 1:1 in den Niederlanden. In Frankfurt wurden letzte Montagearbeiten am Campus verrichtet, das Finanzamt hielt noch die Füße still und drohte nicht mit einer Millionen-Steuernachforderung. Hansi Flick genoss als Bundestrainer ungeschlagen höchstes Ansehen. Alles schien halbwegs heil.

Rudi Völlers Krankheit symbolisch für Zustand der DFB-Elf

Ein Jahr danach: Nations League vermasselt, WM verpatzt, Re-Start danach verbockt, 2:3 daheim gegen Belgien, das auch 3:6 hätte ausgehen können, die größte Hoffnung für die Zukunft, Florian Wirtz, alleingelassen, überfordert und früh ausgewechselt, zuvor Anarchie im Deckungsverbund, erfahrene Leute wie Joshua Kimmich und Leon Goretzka weit weg vom Niveau ihrer belgischen Gegenüber Kevin de Bruyne und Amadou Onana. Stabilität führte erst Emre Can in dessen mit Abstand bestem Länderspiel dem deutschen Durcheinander zu. Der neue Sportdirektor Rudi Völler lag dabei krank mit Nierensteinen auf der heimischen Couch, fast schon symbolisch für den aktuellen Zustand von DFB und seiner darbenden Elitemannschaft.

Hinzu kommt abseits des Platzes: handfester Streit mit der DFL ums liebe Geld, all die Friedenspfeifen vergeblich geraucht, Ligaboss Hans-Joachim Watzke mit unschwer zu interpretierenden Drohgebärden sowie ein wegen des rückwirkenden Entzugs der Gemeinnützigkeit und notorischer Unterdeckung im Finanzplan desillusionierter DFB-Schatzmeister und ein Präsident, der sich auch angesichts der prekären Finanzlage vermutlich gar nicht traut, darüber überhaupt zu sinnieren, ob dieser Bundestrainer noch der richtige ist.

Denn diese Frage müsste ja eigentlich jetzt, da es 2023 offenbar genauso weitergeht, wie es 2022 aufgehört hat (und Oliver Bierhoff nichts mehr dafür kann), in aller Nüchternheit gestellt werden. Bernd Neuendorf müsste sie stellen, Rudi Völler müsste sie stellen, die Taskforce müsste sie stellen, Philipp Lahm als Turnierdirektor 2024 könnte sie auch stellen wollen.

Es muss dabei nicht zwingend eine Trennung herauskommen, aber das Thema sollte zumindest intensiv betrachtet werden. Zeit dafür ist jetzt ja reichlich. Nach der WM, als man sich der Einfachheit halber flugs Bierhoff entledigte, war mit Flick binnen eines Zwei-Stunden-Gesprächs mit Watzke und Neuendorf schon die weitere Zusammenarbeit geklärt. Dabei hatte Neuendorf am Airport in Doha noch postuliert, er erwarte, dass der Bundestrainer „Perspektiven entwickelt mit Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land“. Die sind gerade nicht erkennbar. Keine Spur von Zeitenwende.

Bei allem Respekt vor Flick und dessen beachtlicher Lebensleistung als Co-Trainer der Weltmeistermannschaft 2014 und Bayern-Erfolgscoach 2020; damals, in einer allerdings vergangenen Zeit, als jeder Schachzug saß – er schafft es nicht mehr, ein stimmiges Mosaik zu formen. In den vergangenen zehn Tagen hat er junge Leute zum A-Team hochgezogen, formstarke etablierte Männer wie Antonio Rüdiger oder Niklas Süle daheim gelassen, formschwache Spieler wie Timo Werner und Thilo Kehrer aufgestellt. Schwer zu erkennen, welcher Masterplan dahintersteckte, denn wiewohl Rüdiger und Süle nicht eingeladen wurden, proklamierte der Bundestrainer, eine Viererkette müsse sich mit Blick auf die EM im eigenen Land einspielen.

Mergim Berisha, Felix Nmecha, Kevin Schade und Marius Wolf wurde von Flick dieser Tage zu Debüts verholfen, sie verrichteten ihre Jobs allesamt respektabel, Malick Thiaw und Josha Vagnoman durften nur mal reinschnuppern. Mit Blick auf die U21-Europameisterschaft in diesem Sommer, bei der Deutschland als Titelverteidiger antritt, will Flick nun mit U21-Coach Antonio di Salvo korrespondieren. Die beiden dürften sich schnell einig werden: Die Zeit des Experimentierens und Ausprobierens sollte nun vorbei sein.

Die nächsten drei A-Länderspiele finden im Juni statt, zum Auftakt in Bremen gegen die Ukraine, im Oktober ist ein USA-Trip geplant, im November unter anderem ein Auswärtsspiel in Wien gegen Österreich.

Noch ehe er sich zur Pressekonferenz begab, hatte Flick am Dienstagabend in Köln seine Spieler zur Sitzung zusammengeholt. Es gab Pasta mit Tomatensoße und Sandwiches, um die Kohlehydratespeicher wieder aufzufüllen, und es gab mehr gute als kritische Worte, um sich nicht in einer Atmosphäre des kollektiven Frusts zurück zu den Vereinen aufmachen zu müssen. Seine Botschaft: „Wir nehmen die positiven Dinge mit.“ Sämtliche Spieler, die beim Lehrgang dabei waren, seien „Gewinner“.

Lothar Matthäus fällt vernichtendes Urteil über DFB-Elf

Es ist legitim, mit dieser Form der bewussten Wahrnehmungsverengung in schwierigen Zeiten das Gute herauszustellen, auch wenn es sich versteckt hat. „Wir haben Moral bewiesen. Das gibt mir ein positives Gefühl“, sagte etwa Niclas Füllkrug, diesmal vom Elfmeterpunkt erfolgreich. Insoweit war auch der späte Anschlusstreffer des in der Schlussphase starken Serge Gnabry nicht unwichtig. Das Publikum geriet so noch einmal in Wallung, ein Stimmungstief in Müngersdorf wurde gerade noch vermieden.

Flick räumte in seiner Analyse immerhin Zuwiderhandlungen in der chaotischen Anfangsphase gegen die Gebote der aggressiven Zweikampfführung und der soliden Defensivorganisation ein. Angemessen deutlicher mit Blick auf die Konfusion der ersten halben Stunde war zuvor schon RTL-Experte Lothar Matthäus geworden: „Das war das Schlechteste, was ich in meiner langen, langen Laufbahn gesehen habe.“