WM-Serie - Teil 2: Das Tor von Wembley
Es ist der Moment für die Ewigkeit. Für die Geschichtsbücher. Für Jahrzehnte. Wie Blitze schlagen sie ein. Die Erinnerungen, die Bilder, die Geräusche. Als Geoff Hurst schießt. Als der Ball seinen Fuß verlässt. Als er gegen die Unterkante der Latte kracht. Als er den Rasen berührt. Auf der Linie? Dahinter? Davor? Als Wolfgang Weber ihn einen Wimpernschlag später mit dem Kopf ins Aus befördert. Es ist die entscheidende Szene. Es ist das Aus. Dass Deutschland später noch einen weiteren Treffer kassiert und das WM-Endspiel 1966 gegen England deshalb 2:4 verliert, spielt nur noch eine Nebenrolle. Denn der Treffer vorher, der zum 2:3, zerstört alle Hoffnungen in Wembley.
Dieses Tor (oder Nicht-Tor) läuft bei Weber gerade auf dem Fernseher. In Schwarz-Weiß, dann in Farbe, dann wieder in Schwarz-Weiß – Dauerschleife. Er hat die DVD extra noch mal aus dem Schrank gesucht. Es ist die 101. Minute. Er spult vor, er spult zurück. Seine Stirn legt er dabei etwas in Falten. „Kein Tor, es war kein Tor“, sagt der 69-Jährige immer wieder. Seit 1966, seit fast 50 Jahren, verfolgt Weber das Wembley-Tor. Der Schatten von Wembley wird ihn auch weiter begleiten.
Inzwischen kann Weber mit dem Thema leben. Er hat vorher und nachher große Erfolge gefeiert. Der 69-Jährige ist eine Legende des 1. FC Köln. Er war 1964 erster deutscher Meister der Bundesliga mit dem Klub. Er war an einem DFB-Pokalsieg beteiligt. Er war einer der Protagonisten der Europapokalabende. Auch beim wahnsinnigen Viertelfinal-Duell 1965 gegen den FC Liverpool im Landesmeisterwettbewerb, das nach drei Spielen, die unentschieden endeten, durch einen Münzwurf entschieden wurde. Zugunsten der Engländer. Wie 1966, an jenem Nachmittag in Wembley.
Wenn diese Szene jetzt wieder über Webers Flachbildschirm flimmert, dann funkeln seine Augen. An der Wand in seiner Wohnung in Köln-Porz hängen noch ein paar Bilder von damals. Erinnerungen an eine großartige Karriere. Eine Karriere, die viel zu häufig auf diesen Augenblick reduziert wird. Weber war der Erste, der den Ball danach berührt hat. Er muss wissen, ob er hinter der Linie war. Oder doch nur darauf. Er hat sich die Frage oft gestellt. Und er ist immer zu der gleichen Antwort gekommen: „Keine Diskussion, kein Tor.“
Zur Bestätigung ruft er Hans Tilkowski an – in Wembley der Torwart der DFB-Auswahl. Weber war in der Begegnung der talentierte Abwehrspieler. Vier Tage vorher war er 22 Jahre alt geworden. Tilkowski war mit 31 Jahren der erfahrene Schlussmann. Sie verbindet das Schicksal, sie verbindet das Wembley-Tor. Sie verbindet auch, dass sie diejenigen waren, die es aus nächster Nähe sehen konnten. Und sie verbindet, dass sie einer Meinung sind.
„Hans“, beginnt Weber, „sag’ doch noch mal, wie hast du die Szene damals erlebt?“ Tilkowski antwortet: „Ach Wolfgang, mir wird es nicht anders gehen als dir. Noch immer sprechen mich viele Leute an. Sie sagen dann: Herr Tilkowski, darf ich Ihnen mal eine Frage stellen. Ich lasse sie gar nicht erst weitersprechen. Ich weiß ja sowieso, was kommt. Ich antworte immer gleich, immer mit denselben vier Worten: Er war nicht drin. Der Ball klatschte an die Latte. Dann habe ich direkt über meine linke Schulter geschaut. Ich war nur ungefähr 50 Zentimeter entfernt. Deshalb kann ich das so klar und mit Sicherheit sagen. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Die Kreide der Linie ist aufgewirbelt.“
Weber meint, er habe sich damals um den Erfolg betrogen gefühlt. „Heute kann ich sagen, dass die Engländer an diesem Tag einen Tick besser waren. Der Sieg war nicht unverdient.“ Aber eine Sache ärgere ihn noch immer. „Dass wir danach nicht mehr zurückgekommen sind?“, vermutet Tilkowski. „Nein, dass viele Engländer noch immer nicht zugeben können, dass der Schweizer Schiedsrichter und der Assistent aus Aserbaidschan falsch entschieden haben. Kürzlich habe ich eine Einladung in die Sendung von Markus Lanz bekommen. Ich sollte mich dort mit Geoff Hurst treffen. Aber da hatte ich echt keine Lust zu.“
Weber hätte auf die Ereignisse in der Verlängerung gut verzichten können. Er ist nicht der Typ, der die Öffentlichkeit sucht. Im Gegenteil, Weber lebt zurückgezogen in Porz. Direkt vor seinem Balkon fließt der Rhein Richtung Dom. Wenn er unterwegs ist, fast immer mit dem Fahrrad. Er wohnt seit fast 55 Jahren hier. In seinem Stadtteil kennt ihn fast jeder. Er räumt einmal in der Woche einen Spielplatz auf. Für sein Engagement mit geistig behinderten Menschen hat er vor einigen Jahren das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Weber hat nicht vergessen, wo er herkommt: Noch immer engagiert er sich ehrenamtlich bei seinem Heimatklub in der Kreisliga A. Er erzählt gerne die Geschichte, wie er als Zehnjähriger im Vereinslokal der SpVg Porz in der letzten Reihe auf einem Tisch stand, um irgendwie einen Blick auf den Fernseher und das WM-Endspiel 1954 in Bern zu erhaschen. Seine Helden hießen damals Fritz Walter, Hans Schäfer oder Helmut Rahn. Zwölf Jahre später war er selbst einer von ihnen.
Das Endspiel 1966 hätte diesen emotionalen Höhepunkt in der 101. Minute gar nicht gebraucht. Es war auch so schon dramatisch genug. Helmut Haller hatte die Mannschaft von Helmut Schön früh in Führung gebracht, Geoff Hurst und Martin Peters hatten die Begegnung für die Engländer gedreht. Dann begann die letzte Minute. „Der Trainer hat uns alle nach vorne geschickt“, erzählt Weber rückblickend. „Alles oder nichts.“ Er stürmte also in den gegnerischen Strafraum. Plötzlich bekam Deutschland einen zweifelhaften Freistoß zugesprochen. Plötzlich lag der Ball vor Webers Füßen. „Ich habe nicht nachgedacht, ich habe einfach nur geschossen.“ Er trifft, 2:2. Jubel, neue Hoffnung – die dann in der Verlängerung in eine jähe Enttäuschung umschlug.
„Wir waren eigentlich psychologisch im Vorteil. Ich hatte den Eindruck, dass die Engländer am Boden waren“, ist Weber sicher. Ein Eindruck, den Tilkowski teilt: „Aber vielleicht hatte die Aufholjagd doch mehr Kraft gekostet, als wir geglaubt hatten.“ Trotz allem sei es ein großartiges Turnier für das deutsche Team gewesen, sagt Tilkowski. „Wer hatte vorher schon damit gerechnet, dass wir es bis ins Endspiel schaffen würden?“