Statt in den Knast werden jugendliche Delinquenten aus Deutschland nach Nicaragua geschickt. Ihre Therapie: schwere körperliche Arbeit.: Das Abenteuer-Gefängnis
Reifenpanne. "Oh nee, Mann. Ich glaub s nicht", flucht Niko und springt von der Ladefläche des Pick-ups. Der 14-Jährige mit dem Piercing auf der rechten Braue schiebt seine Sonnenbrille auf Stirnhöhe und setzt seinen Diskman auf. Ein bisschen Techno hören. Das braucht er jetzt zur Entspannung. 24 Stunden ist er nun schon weg aus Deutschland. 24 Stunden - "und nichts als Scheiße ist seitdem passiert": Erst die Hitze von Managua, dann der klapprige Propeller-Flieger, der ihn irgendwo in die nicaraguanische Pampa befördert hatte. Der Wagen ist freilich die Krönung von allem: ein russisches Modell, mindestens 20 Jahre alt. War doch klar, dass der den Geist aufgeben würde. Niko zumindest. "Und was machen wir jetzt, Dieter?", fragt Niko seinen neuen Betreuer. Dieter Dubbert heißt der Übeltäter, der ihn hierher verschleppt hat, sein Sozialheini. Der lacht. "Jetzt reparieren wir die Karre." Niko starrt ihn ungläubig an. Aber noch bevor er - "Oh nee, ey!" - protestieren kann, ist der 58-jährige voluminöse Oberbayer bereits unter den Wagen gerobbt. "Du kannst auch zu Fuß gehen, immer geradeaus", bietet er ihm von dort unten aus an. "Kurz nach Mitternacht müsstest du da sein - ansonsten gib mir mal den Wagenheber ." Niko blickt auf den schlammigen Weg, der vor ihm liegt, und dann auf seine neuen Markenturnschuhe. Und beginnt, den Werkzeugkasten zu suchen. In der Abenddämmerung erreicht das Gefährt das Indianerdorf Bismuna: hölzerne Pfahlbauten, eine Kirche, ein Kiosk, ein Fluss. Vor den Häusern sitzen die Familien der Indios. Niko, der auf der Ladefläche steht, betrachtet sie mit unverhohlener Neugierde. "Dieter!", ruft ein Mann und winkt zur Begrüßung, "hast du wieder ein Kind von dir mitgebracht?" Seit er vor zwölf Jahren ins Dorf gezogen ist, erklärt Dieter Dubbert den Dorfbewohnern, dass die Kinder, die er hierher bringt, nicht seine Kinder sind. Vergeblich.Nach Bismuna werden Jugendliche geschickt, an denen Sozialarbeiter und Jugendämter in Deutschland verzweifeln: Die meisten von ihnen haben Drogenprobleme und ein beachtliches Straftatenregister. Ein bis zwei Jahre verbringen sie auf dem Hof von Dieter Dubbert und seiner Kollegin Annette Zacharias im hintersten Zipfel von Nicaragua, fern von der Clique und fern von den Eltern. Autos, die man klauen könnte, gibt es in Bismuna nicht. Und keine Straße führt von hier aus in die Hauptstadt.Der Hof liegt an einem kleinen Fluss, etwas außerhalb des Dorfes. Christian, Michael, Anne, Fabian und Stefan warten bereits in der Hofeinfahrt. Sie alle sind zwischen 13 und 18 Jahren alt: ehemalige Autoknacker, Drogendealer, Alkoholiker und Prostituierte. Und was hat Niko ausgefressen? "Ich hab ein bisschen Scheiße gebaut", sagt er. Gerade ist er um Haaresbreite dem deutschen Jugendknast entgangen. Wegen Autoklau. Nicaragua, sagte ihm der Richter, sei seine letzte Chance. Der 14-Jährige bezieht einen kleinen Raum in einem Holzhaus auf Stelzen. Seine Unterbringung hier kostet den Steuerzahler 2 500 Euro im Monat - etwa die Hälfte dessen, was er für eine Zelle in der Jugendstrafanstalt locker machen müsste, wo die Rückfallquote bei über 50 Prozent liegt. Von den Bismuna-Jugendlichen werden dagegen nur 30 Prozent rückfällig. In seinem neuen Quartier packt Niko seine Sachen aus: Die acht Vorratspackungen Lucky Strike verschwinden gleich unter der Matratze. Sein Sozialarbeiter hat ihm zum Abschied ein Buch geschenkt. Obwohl Niko sowieso nicht liest. Das Geschenk seiner großen Schwester findet er viel nützlicher: ein selbst gebasteltes Adressbuch. Alle haben darin unterschrieben: die Schwester, der Freund von der Schwester, der Sozialarbeiter, die Omi. Nur sein Vater fehlt bei den Eintragungen. Der ist vor einem Jahr gestorben. Von ihm hat Niko ein Foto mitgebracht: Muskulös und braun gebrannt steht er da am Strand von Alicante. In Alicante haben Vater und Sohn in den vergangenen vier Jahren gelebt - und jede Menge Autos geknackt. Die Schule hat Niko während dieser Zeit kaum gesehen, dafür kennt er spanische Gefängnisse von innen. Böse ist er seinem Vater nicht: "Wir hatten eine gute Zeit."Dass Bismuna kein Ferienlager mit Vollverpflegung ist, merkt der Neue, als er am nächsten Morgen um sechs Uhr geweckt wird: Sobald die Sonne aufgeht, verlangen die Tiere im Hof nach Futter. Dann muss Wasser vom Fluss geholt und Feuer gemacht werden. Auch der Frühstückstisch deckt sich nicht von allein. Es gibt einfache Kost: Gebratener Reis mit Bohnen ist das Standardgericht für jede Tageszeit. Niko macht ein langes Gesicht. "Wenn du Fisch essen willst, musst du ihn erst fangen", erklärt Dieter ihm in freundlich bayrischem Singsang die Regeln auf seiner Ranch. "Alles hängt von dir ab. Wenn du eine nette Zeit haben willst, musst du deinen Beitrag zur Gemeinschaft leisten: Fische fangen, die Tiere versorgen oder Feuerholz holen. Wer nichts zur Gemeinschaft beiträgt, hat auch kein Recht darauf, sie zu nutzen. Verstehst?"Was das im Klartext heißt, erläutert der 16-jährige Christian, der bereits einschlägige Erfahrungen gemacht hat. Als er vor mehr als einem Jahr nach Bismuna kam, sträubte er sich gegen alle Arbeiten. Besonders das Holzholen war ihm verhasst. Weil das Feuerholz nicht unmittelbar in der Nähe des Hofes wächst, muss man bis in den Dschungel hinein wandern. Dort werden die Bäume in transportfähige Größen gesägt und von den Jugendlichen bis zum Fluss, dem nächsten Transportweg, geschleppt. Das ist Schwerstarbeit, und Christian sah es gar nicht ein, sich "wie einen KZ-Insassen" behandeln zu lassen. Dieter Dubbert und seine Kollegin ließen ihn gewähren: Während die anderen Holz schleppten, ging Christian baden. Seine Betreuer schenkten ihm einen Angelhaken, etwas Reis, getrocknete Bohnen - und wünschten ihm viel Glück. Christian wurde nicht mehr zu den Mahlzeiten gerufen und campierte unter einem der Pfahlbauten im Freien. Zwei Wochen hielt er durch. Dann kehrte er in die Gemeinschaft zurück. "Alle kehren früher oder später zurück", sagt der Pädagoge, "weil sie merken, dass sie die Gemeinschaft brauchen." Und genau um diese Einsicht geht es ihm: Die Jugendlichen sollen erfahren, dass sie die Regeln der Gruppe respektieren müssen, um ein Teil von ihr zu sein. "Viele der Kinder, die hierher kommen, haben das Maß verloren: Sie klauen völlig ohne Unrechtsbewusstsein, weil sie glauben, sie bewegen sich im luftleeren Raum. Aber hier ist kein luftleerer Raum: Jede Handlung zieht unweigerliche Folgen nach sich. Das funktioniert, weil hier alles kleiner und überschaubarer ist." In Europa, meint der Pädagoge, wäre dieselbe Arbeit unmöglich.In der kleinen Welt von Bismuna bleibt keine Aktion unbemerkt. Das erfahren die Jugendlichen spätestens, wenn sie versuchen, sich Drogen zu besorgen. Wer Koks oder Haschisch haben möchte, bekommt es in Bismuna problemlos zu kaufen. Die Miskitos dealen mit Koks, das sie an der Atlantikküste finden. Der Stoff stammt von den Schiffen kolumbianischer Drogendealer, die ihre Fracht über Bord werfen, sobald die Küstenwache naht. Aber ebenso schnell, wie die Jugendlichen ihr Taschengeld verhökert haben, ist Dieter Dubbert über den Kauf informiert: Die Nachbarn petzen alles. Dann folgen die Strafen: Taschengeldentzug, Hofarrest, Müllgruben ausheben oder monatelanger Spüldienst. "Nicht sehr originell", geben die Pädagogen zu, "aber wirkungsvoll." Zu tun gibt es allemal genug. Mit ihren Strafdiensten haben die schwarzen Schafe unter den Jugendlichen im Dorf schon echte Entwicklungshilfe geleistet: Eine Schule, eine Krankenstation, eine Nähstube und ein Haus mit Rollstuhlrampe wurden durch sie im Lauf der Jahre errichtet. Und vieles, was in Deutschland mit einem Gang in den Baumarkt erledigt ist, artet hier in Knochenarbeit aus: So müssen die Betonklötze für den Hausbau erst einmal gegossen werden. Den Sand dafür schleppen die Jugendlichen eimerweise vom Fluss herauf. "Also geh nur Haschisch kaufen", ermuntert Dieter den Neuen augenzwinkernd: "Das Dorf freut sich schon auf deinen Einsatz." Dass Dieter wahr macht, was er so scheinbar scherzhaft ankündigt, hat er oft genug bewiesen. "Ich würde vorsichtig sein. Der meint es ernst", warnt die 15-jährige Anne, das einzige Mädchen in der Gruppe. Sie hat in ihrer Anfangszeit so ziemlich alles ausprobiert, um ihre beiden Betreuer zu provozieren. Sie urinierte in Essenstöpfe, hinterließ ihre Exkremente in Schüsseln mit frisch gewaschener Wäsche - und erntete das entsprechende Echo. Aber weder Arbeitsdienste noch Hofarrest konnten Anne schrecken. Sie wollte nur eines: weg aus Bismuna. Als es ihr bereits zum zweiten Mal gelungen ist, bis in die Küstenstadt Porto Cabezas zu kommen, schlagen die Pädagogen eine härtere Gangart ein: Auf der Rückfahrt nach Bismuna trägt sie Handschellen. In jedem Dorf, das zwischen Porto Cabezas und Bismuna liegt, wird sie dem örtlichen Polizeirevier vorgeführt wie eine Verbrecherin. Auf dem Hof bleibt sie keine Minute mehr unbewacht: Tagsüber arbeitet sie unter Aufsicht mit den anderen Jugendlichen; nachts schläft sie angekettet im Zimmer der Praktikantin. Dieter Dubbert ist sich bewusst, dass er mit diesen Maßnahmen seine juristischen Möglichkeiten überschritten hat. Trotzdem hält er sie auch im Nachhinein für richtig: "Ich wollte verhindern, dass Anne unter die Räder kommt. Wenn sie es bis Managua geschafft hätte, wäre sie unweigerlich in einem Bordell gelandet", meint er. Als der Kampf ausgestanden ist, bietet er ihr an, ihn zu verklagen. Anne aber denkt nicht daran. "Ich brauchte das", behauptet sie heute. Die junge Frau hat ein Foto von sich selbst zur Zeit ihrer Ankunft in Bismuna aufbewahrt: Eine grell geschminkte, ausdruckslose Maske ist darauf zu sehen. "Damals war ich 13 und verdiente 500 Euro am Tag", erzählt sie. Ihre Halbschwester, die auf dem Strich arbeitete, habe ihr von dem Job "als Fotomodell" erzählt. Was für Fotos gemacht wurden, will Anne nicht sagen. "Ich hatte so einen Panzer um mich herum - mir war alles scheißegal." Diesen Panzer, so glaubt sie, mussten ihre Betreuer erst knacken. "Ich musste erst den absoluten Tiefpunkt erreichen. Bis ich das Gefühl bekam: So geht es nicht weiter." Ihren Tiefpunkt erlebte Anne nicht in Hamburg mit Drogen im Hirn und viel Geld in der Tasche, sondern in Bismuna, wo plötzlich alle diese Dinge fehlten und ein fieser Pädagoge sie hinderte, vor sich selbst wegzulaufen. Erst nach der totalen Frustration war sie bereit, sich zu verändern: Sie brach den Kontakt zu ihren deutschen Freundinnen ab und bat ihre Betreuer, deren Briefe wegzuschmeißen. Mittlerweile darf Anne sich wieder völlig frei in Bismuna bewegen. Sie fühlt sich noch nicht stark genug, um nach Deutschland zurückzukehren. Am liebsten würde sie in Nicaragua ihren Schulabschluss machen. Diese Möglichkeit bestünde aber nur bei einem längeren Aufenthalt. Fast täglich unternimmt sie Ausflüge ins Dorf, um ihre Freundin Marika, eine ebenfalls 15-jährige Miskito-Indianerin, zu besuchen. Heute begleitet sie Niko dabei. "Naxa!", ruft Marika, als sie die beiden kommen sieht. Das heißt so viel wie: hallo. "Naxa!", grüßt Anne zurück. Und dann radebrechen die Mädchen drauflos. Niko versteht noch kein Wort.TIM ZÜLCH Kein Ferienlager mit Vollverpflegung: In Bismuna muss jeder seinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten.