Wer zuerst Streetwear in die Prêt-à-porter brachte – und dann den Gegentrend erfand
Auch der Mode-Mainstream will wieder schicker werden. Wir haben mit dem Designer gesprochen, der diesen Schritt schon Jahre vor Balenciaga und Dior ging.

Es war nicht das erste Mal, dass bei einer Modenschau Lutz Huelles die Geigen aufspielten. Schon 2018 drang auf einer Laufsteginszenierung seines eigenen Labels in Paris Vivaldis „L’inverno“ aus den Boxen – vor wenigen Monaten dann überschlugen sich dieselben Violinenklänge bei seiner Modenschau für AZ Factory. Und ging Vivaldis Wintermotiv damals, 2018, noch im Postpunk von Siouxsie & The Banshees auf, explodierten die Barocktöne nun in „Teenage Kicks“ von den Undertones.
Auch musikalisch lässt der Designer inszenieren, was er modisch ohnehin am besten kann: Dinge aus ihrem Kontext reißen, Gegensätze zusammenbringen, Hoodies über Hemdkleidern, Ballonröcke zu Bomberjacken. Lange bevor es ihm die großen Luxusmarken gleichtaten, brachte der Pariser Designer Details der Streetwear in die elitäre Prêt-à-porter.
Wir treffen Lutz Huelle im Design-Store von Andreas Murkudis auf der Potsdamer Straße. Hier wird nicht nur Huelles eigene Marke seit ihren Anfängen verkauft – auch eine Kollektion, die er für AZ Factory entworfen hat, ist nun deutschlandweit nur bei Murkudis zu haben. Mit dem berühmten Gründer von AZ Factory – dem 2021 verstorbenen Alber Elbaz, einem Meister der volumenreichen Eleganz – verbinde ihn mehr als eine Schwäche für Tulpenärmel und Drapagen, wie uns Huelle erzählt.

Herr Huelle, unser letztes Gespräch liegt schon ein paar Jahre zurück. Es war 2018, als Sie mir sagten, Sie wollten Ihrer Mode „ein bisschen mehr Bourgeoisie“ implementieren. Würden Sie das heute auch so ausdrücken?
Nein, genau so würde ich das nicht mehr sagen. Vielleicht habe ich damals noch nach den passenden Worten gesucht für eine Entwicklung, die ich um mich herum gespürt habe, und die ich in meine Mode bringen wollte. Dieses Wort „Bourgeoisie“ hat ja einen nicht nur angenehmen Beiklang, aber damals hat es für mich etwas beschrieben, das irgendwie in der Luft lag: eine neue Lust auf Eleganz und Dekadenz, die ich zum Beispiel durch voluminöse schicke Röcke und bauschige Tulpenärmel abgebildet habe. Etwas, das mich vorher nie interessiert hatte. Sehr feminin, leicht – auch sexy. Noch so ein Wort, das ich zuvor nicht für meine Arbeit benutzte. Auch wenn ich nie etwas gegen Sex hatte (lacht).
Im Grunde haben Sie damit vor Jahren einen Look vorweggenommen, der sich erst jetzt wieder in der Mode abzeichnet – man denke nur an den aktuellen Versuch der Marke Balenciaga, nach Jahren des radikalen Ugly-Chics wieder zu einer Eleganz zurückzufinden. Oder an das, was Kim Jones aus der Menswear von Dior gemacht hat. Davor waren auch Sie es, der früh Sportswear und Streetwear in die Prêt-à-porter brachte, lange bevor Labels wie Off-White, Vuitton und eben Balenciaga nachzogen. Ist an Ihnen ein Trendforscher verloren gegangen?
(Lacht) Das ist sehr nett, dass Sie das sagen. Aber meine Arbeit basiert eben nicht auf Analysen, sondern wie gesagt immer auf einem Gefühl dafür, was gerade in der Luft liegt. Wie sich die Bedürfnisse der Menschen an die Mode verändern. Ich muss nur manchmal aufpassen, dass ich damit nicht zu früh dran bin.

Ein schwieriges Unterfangen für einen Vordenker wie Sie?
Es hat viele Jahre gebraucht, bis ich mit der generellen Mode wirklich in Einklang gekommen bin – das war ich nicht immer, aber das ist wichtig, wenn man die Menschen mit einer Kollektion erreichen will. Es war ungefähr 2016, als ich das erstmals wirklich geschafft habe. Damals waren die Leute langsam dazu bereit, anzunehmen, wenn Modeteile aus ihrem klassischen Kontext genommen und anders platziert werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war eben noch nicht so klar, dass Streetwear ein Thema der Prêt-à-porter und dementsprechend auch hochpreisig sein kann. Was teuer verkauft werden sollte, musste auch schick sein – so war das damals. Als dann andere Marken anfingen, sogar Baseballcaps für 500 Euro zu verkaufen, und dieser Stil zur Normalität wurde, musste ich aufpassen, nicht sofort weiterzugehen, sondern diesen Moment auch für mich und meine Marke ein bisschen auszukosten.
Trotzdem haben Sie dann eine neue Eleganz in ihre Mode gebracht, die, wie gesagt, erst jetzt langsam in der breiteren Masse ankommt. Die Kollektion, die Sie nun neben der Arbeit an Ihrem eigenen Label für die Marke AZ Factory des verstorbenen Alber Elbaz entworfen habe, führt diese Idee fort.
Das ist richtig. Diese Kollektion soll ja in gewisser Weise auch Albers Codes entsprechen. Einem Stil – und hier passt das Wort in seiner positivsten Auslegung –, der tatsächlich sehr bourgeois und eben wahnsinnig schön war. Interessanterweise hatten die Teams von AZ Factory erkannt, dass Albers und meine Arbeit sich in diesem Punkt, in bestimmten Details wie dem Spiel mit Volumina, ganz ähnlich sind. Mir war das vorher nie aufgefallen. Ich habe das erst bemerkt, als die Marke AZ Factory mit der Bitte um eine Kooperation auf mich zugekommen war und mir dort erzählt wurde, dass auch Alber selbst meine Arbeit zu Lebzeiten wahrgenommen und geschätzt hatte. Das war für mich eine richtige Ehre, denn er war ja einer der berühmtesten, begabtesten Designer der vergangenen 20 Jahre. Zudem habe ich ihn in Interviews immer als wahnsinnig freundlich, interessiert und zugewandt wahrgenommen. Ein Eindruck, der sich bestätigte, als ich ihn das erste und einzige Mal persönlich traf.

Können Sie uns etwas von dieser Begegnung erzählen?
Wir hatten uns bei einem Diner kennengelernt, das Emmanuel Macron im Rahmen der Pariser Modewoche im Élysée-Palast ausgerichtet hatte. Dort waren alle Designerinnen und Designer eingeladen, die während der Woche eine Schau veranstalteten, von den ganz großen wie Louis Vuittons Nicolas Ghesquière bis zum absoluten Newcomer, der seine Arbeit überhaupt das erste Mal präsentierte. Dort haben Alber und ich uns zumindest kurz unterhalten; er hatte etwas extrem Menschliches und war sehr nett, was in der Branche nicht immer gegeben ist. Ich habe schnell gemerkt, dass er grundsätzlich interessiert an den Menschen war, gerade auch an den Frauen, für die er seine Kleider entwarf. Er hatte ein großes Verständnis dafür, dass es in der Mode um etwas Reales geht; dass man Menschen anziehen und sie dabei unterstützen will, sich wohlzufühlen. Das ist etwas, das auch mir sehr entspricht.
In Ihrer Kollektion für AZ Factory nähern Sie sich diesem Prinzip der engen Beziehung zur eigenen Kundin auf sehr radikale Weise an. Die Überschrift der Linie lautet „F is for friendship“, Ihre Leitfrage soll gewesen sein: „Was würden meine Freunde tragen?“
Das stimmt. Meine Idee dabei war, abzubilden, dass sich Freundinnen und Freunde ja gelegentlich ihre Garderobe teilen. Dass die eine dem anderen mal das Hemd wegnimmt, oder sich ein Mann den schönen Blouson von einer guten Freundin leiht. Es sollten ganz unterschiedliche Entwürfe werden, die aber gut zusammenpassen. Darüber wollte ich auch erzählen, wie vielseitig Freundeskreise sind; dass Menschen sich ganz nahe sein können, obwohl sie verschiedene Dinge tun, verschiedene Alter haben, verschiedene Körper und Größen. So haben wir die Kollektion dann auch auf einer Schau in Paris präsentiert: An Frauen und Männern unterschiedlichster Typen.

Sind es auch Freundschaften, die Sie immer wieder nach Berlin führen? Sie wirken mit der Stadt recht vertraut, wenngleich Sie Deutschland vor mehr als 20 Jahren den Rücken gekehrt haben, um in Paris zu arbeiten.
Ja, meine beiden ältesten und besten Freunde leben in der Stadt.
Sie sprechen von dem berühmten Fotografen Wolfgang Tillmanns und der bildenden Künstlerin Alexandra Bircken, die beide in ihrem Feld als Koryphäen gelten und wie Sie in Remscheid aufgewachsen sind.
Genau, wir sind quasi zusammen aufgewachsen. Und ich würde sagen, dass wir heute das tun, was wir tun, weil wir uns immer gegenseitig gepusht haben. Freundschaften sind im Leben ohnehin das Wichtigste, können aber gerade auch auf die kreative Arbeit einen großen Einfluss haben. Eigentlich habe ich mich beim Entwerfen schon immer gefragt: „Würden meine Freunde das anziehen?“
Eine lange Freundschaft verbindet Sie ebenso mit Andreas Murkudis. Ist sein Berliner Design-Store auch deswegen der perfekte Ort, um ihre Kollektion für AZ Factory deutschlandweit exklusiv zu verkaufen?
Auf jeden Fall. Andreas hat ja auch meine eigene Marke von Beginn an im Sortiment. Er war einer unserer ersten und ist sicherlich einer unserer langjährigsten Kunden. Er hatte immer einen Blick für eine interessante Mischung und hat sich nie daran orientiert, welche Marken sich gerade am besten verkaufen lassen. Insofern ist er viel mehr Kurator als Einkäufer, was mir sehr imponiert. Andreas hat immer nach Instinkt gehandelt und meine Kollektionen in sein Geschäft genommen, obwohl sie am Anfang sicherlich noch nicht so leicht zu verkaufen waren.

Eben wegen dieser damals so neuen Verbindung aus Sportswear und Elementen der Couture, über die wir vorhin sprachen?
Ja, das ist eine Verbindung und zugleich eine Neukontextualisierung, die ich am Anfang noch viel extremer betrieben habe. Als Designer ist man zu Beginn ja ein bisschen blauäugig, was das reale Leben angeht, und lernt erst mit der Zeit, was sich auch wirklich gut verkauft. Dass dieser Zeitpunkt kommen würde, hat Andreas von Anfang an erkannt und mich früh unterstützt.
Und wann haben Sie selbst gemerkt, dass Ihre Mode auch in der Lebensrealität Ihrer Kundinnen einen Platz gefunden hat?
Ich kann mich jedenfalls noch sehr genau daran erinnern, als ich das erste Mal ein Teil von mir sozusagen in freier Wildbahn gesehen habe. Es muss ein Entwurf meiner zweiten oder dritten Kollektion gewesen sein, ein roter Mohair-Sweater mit Reißverschluss. Ich saß in einem Restaurant in Paris und entdeckte plötzlich eine Japanerin, die am anderen Ende des Raumes in eben diesem Pullover am Tisch ihr Essen aß. Ich war so glücklich – ich hätte heulen können!
Sind Sie hingegangen und haben sie angesprochen? Es muss doch verlockend sein, sich in einem so prägenden Moment als Designer zu erkennen zu geben?
(Lacht) Nein, natürlich habe ich sie nicht angesprochen. Ich wollte sie nicht bei ihrem Essen stören und habe auch versucht, nicht so hinzustarren. Ich war einfach nur glücklich. Gerade am Anfang, wo man noch nicht so ein starkes Gefühl dafür hat, wie die eigenen Sachen wirklich ankommen, ist so ein Moment wahnsinnig wertvoll. Plötzlich wird das, was du machst, real. Deine Mode wird zur Wirklichkeit.