Ein Jahr nach der Flut im Ahrtal: „Jede Blüte ist jetzt ein Hoffnungsschimmer“
Mehmet Yilmaz zählt zu den weltbesten Floristen. Im Juli 2021 zerstörte die Flut beinahe seine berufliche Existenz. Wie geht es ihm nach dem Wiederaufbau?

Ein Bündel Pfingstrosen liegt in der linken Armbeuge von Mehmet Yilmaz. Wassertropfen glitzern auf den Blüten, ein Regenschauer zog gerade vorbei. Saugen sich ihre Köpfe zu voll, brechen die zarten Stile. Das kann sich Yilmaz nicht leisten, für ihn geht es heute ums Ganze — jede Blüte zählt.
Er, ein Mann mit gezupften Augenbrauen und grauem Holzfällerflanell, steht vor langen Blumenkästen, die er vor acht Wochen auf schulterhohe Gestelle geschweißt hat. Hier auf dem kreisförmigen Rasen hat er sie als Kreuz angeordnet, in dessen Mitte ein Beet angelegt ist. Kein Aufwand ist ihm zu groß, Yilmaz zählt zu den besten Floristen der Welt: 2003 nahm er am Europacup teil, 2015 war er unter den fünf Besten beim Weltcup in Berlin. Man merkt es ihm kaum an, wie er dasteht und mit geneigtem Kopf die Blumen betrachtet, aber der Star kämpft ums Überleben. Es ist Yilmaz‘ erste Ausstellung, seit sein Geschäft vor 315 Tagen zerstört wurde.
Zum Star seiner Branche wurde Yilmaz vielleicht durch die „Atmosphäre“ seiner Installationen, in denen er die Farben und Formen der Umgebung spiegelt. Mit dem Finger zeigt er auf ein Becken, das mit Entengrütze gefüllt ist und sagt: „Da siehst du den Wassergraben der Burg.“ Dann dreht er sich um und zeigt auf zwei Etageren, die auf sieben Ebenen spitz zulaufen und mit Rosen bestückt sind, „da die Burgtürme“, die über den Hof wachen. Vielleicht liegt sein Geheimnis aber auch darin, dass Yilmaz sich in seinen Installationen selbst zu zeigen versucht. Seine Arbeit im Burghof nennt er: „Das Ahrtal blüht in Adendorf auf.“

Am 14. Juli 2021 wurde Bad Neuenahr-Ahrweiler von der Flut überrascht. Sie zermalmte beinahe die gesamte Innenstadt, auch das Geschäft Lersch Floral Design von Mehmet Yilmaz. Die länglichen Gestelle im Burggarten symbolisieren Brücken, auf denen Blumen wachsen. Zeichen einer neuen Zukunft. Bislang ist diese nur ein vages Versprechen.
Es ist ein schwüler Dienstag Ende Mai. Im Süden von Nordrhein-Westfalen liegt hinter einem Lindenhain, umgeben von einem Wassergraben, die Burg Adendorf — ein beigefarbenes Gemäuer mit weißen Fenstern und breitem Kiesweg. Über 20.000 Tickets wurden für die Landpartie verkauft, die hier in wenigen Tagen stattfindet. Dann schlendern Gäste in weißen Kleidern und mit großen Sonnenbrillen auf den Nasen über das Anwesen und kaufen bei den Ausstellern Weißwein, Flammkuchen oder hochwertige Uhren. Yilmaz‘ Blumen sollen den Burgbesuch perfekt machen, ein sorgenfreies Wochenende nach einem harten Corona-Winter. „Die sollen sich hier sattgucken“, sagt er.
Nur noch Sargschmuck und Nelkengestecke
Denn wie kann Yilmaz arbeiten, wenn die Welt um ihn herum seit einem Jahr in Trümmern liegt? Seinen alten Laden musste er aufgeben, die Gärtnerei umbauen und eine neue Gewerbefläche finden. Seit der Flut arbeitete er an kaum etwas anderem als an Sargschmuck und Nelkengestecken — für verstorbene Freunde und Kunden. Aber auch wenn Yilmaz wenig Hoffnung bleibt, er beißt sich durch.
Im vergangenen Sommer glaubte er, das Schlimmste überstanden zu haben. Nach 16 Monaten Corona-Pause konnte er seinen Verkaufsladen in der Innenstadt am 12. Juli 2021 wieder eröffnen, erzählt er. In der Zwischenzeit hatte er den Verkaufsraum in einem hellen Grau gestrichen, bunte Vasen und Übertöpfe für das Schaufenster gekauft, den Arbeitsbereich neu gefliest. In einer Ecke neben der Kasse hatte er in einem Regal seine Medaillen und Urkunden gut sichtbar ausgebreitet.

Zur Ladeneröffnung war er von der Bundesgartenschau in Erfurt zurückgekehrt, eine ganze Halle habe er dort mit einer Installation gefüllt, erzählt er. Sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kam vorbei, um sich die Blumen anzusehen. Von der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft bekam Yilmaz für seine Arbeit zwei große Goldmedaillen, vier Goldmedaillen, vier Silbermedaillen und einen Ehrenpreis des Fachverbandes Deutscher Floristen. Er gewann alles, was es zu gewinnen gab — bevor er alles verlor, beinahe auch sein Leben.
1990 folgte Mehmet Yilmaz seinem Vater aus der Türkei nach Bad Neuenahr-Ahrweiler. Er war gerade elf Jahre alt, sein Vater arbeitete schon eine Weile als Mechatroniker und stellte Stoßdämpfer bei der Sachs AG her. Die Mutter war früh gestorben. Zu zweit wohnten sie in der Nähe der alten Gärtnerei, die von der Familie Lersch betrieben wurde. Gregor Lersch, der Sohn, war zu diesem Zeitpunkt schon ein berühmter Florist und gab Fortbildungen in den USA und in Russland. In der Gärtnerei arbeitete meistens Lersch Senior.
Du musst Pflanzen respektieren, sie behutsam berühren.
„Ich wollte meinem Vater keine Last sein“, sagt Yilmaz. Er fing an, nach dem Schulunterricht in der Gärtnerei Unkraut zu jäten, Pflanzen zu gießen und Beete zu harken. Der alte Lersch, ein ruhiger Mensch, freundete sich mit Yilmaz an, prüfte während der Arbeitszeit seine Hausaufgaben und gab sie ihm nach Feierabend zur Korrektur. „Das mit den Blumen machst du doch nur wegen der Frauen“, hatte sein Vater immer gesagt; er wollte, dass sein Sohn Automechaniker werde. Yilmaz musste sich gegen ihn durchsetzen. Einen Tag vor Ausbildungsbeginn ging er zu Gregor Lersch und bat um einen Ausbildungsplatz als Florist.

„Du musst Pflanzen respektieren, sie behutsam berühren“, sagt Yilmaz. Gregor Lersch erkannte sein Talent und lehrte ihn florale Farbenlehre und den goldenen Schnitt für Blumen-Installationen. Auch sie wurden Freunde. Und als Yilmaz nach seiner Ausbildung mit Stationen in Toulouse und Köln wieder nach Bad Neuenahr-Ahrweiler zurückkam, übernahm er 2011 das Geschäft der Familie Lersch. „Der Name Lersch ist groß und manchmal ein schweres Gewicht“, sagt Yilmaz. Das bekam er im vergangenen Jahr besonders zu spüren, als das Geschäft zerstört wurde.
Vom Burghof in Adenau liegt das rheinland-pfälzische Ahrtal nur acht Kilometer Luftlinie entfernt. Die Ahr entspringt in der Eifel und windet sich durch ein Tal zwischen Weinbergen, vorbei an Orten, deren Namen nun ganz Deutschland kennt: Schuld, Altenburg, Altenahr, Bad Neuenahr-Ahrweiler, Sinzig. Im Sommer kann man vielerorts durch das Flussbett stapfen, das oft nur knietief ist. An dem Abend, als die Flut kam, saß Yilmaz mit seiner Ehefrau auf dem Sofa. Sie wohnen etwas oberhalb des Stadtzentrums. Durch den dichten Regen hörten sie die Feuerwehrsirenen. Er erinnert sich, gesagt zu haben: „So schlimm wird es nicht werden.“ Dann stieg er in sein Auto und fuhr in die Innenstadt, um nach seinem Laden zu schauen.
Yilmaz konnte nur noch zusehen, wie das Wasser in sein Geschäft lief
Das Wasser trat über die Ufer und erreichte das untere Ende der Telegrafenstraße, wo Yilmaz sein Geschäft hatte. Er eilte in den Laden und rannte die Treppen hinab in das Büro im Keller. „Das sickert durch den Abfluss, wenn’s reinläuft“, dachte er, als er die Aktenordner aus dem niedrigen Regal auf den Arbeitstisch in der Raummitte wuchtete. Darin hatte er die Quittungen der Wiedereröffnung und das Briefpapier mit dem neu designten Briefkopf abgeheftet. Als er zurück auf die Straße kam, stand er schon bis zu den Knien im Wasser.

Minütlich stieg der Pegel, und Yilmaz kletterte auf einen Holztisch, der vor dem Laden stand. Er konnte nur noch zusehen, wie das Wasser über die Stufen in sein Geschäft lief. Dann plötzlich, es muss gegen 23 Uhr gewesen sein, gab es einen lauten Knall, erinnert sich Yilmaz. Ein Opel Corsa wurde von den Wassermassen gegen das Tor der benachbarten Tiefgarage geschwemmt und drückte es ein. Die Einfahrt verwandelte sich im Handumdrehen in einen schwarzen Schlund mit reißendem Sog. Angst lähmte Yilmaz. Erst als ein größeres Auto vor das dunkle Maul gespült wurde und der Sog nachließ, konnte er sich durch das brusthohe Wasser die Straße hinauf in Sicherheit bringen.
„Trotzdem“, sagt er, „wäre es mir lieber, wenn mein Haus und nicht mein Geschäft betroffen wäre.“ In den Tagen nach der Flut stand er vor den Trümmern — 160 Jahre Familienbetriebsgeschichte waren im Schlamm versunken. Dutzende Floristinnen und Floristen wurden hier ausgebildet, die zu den Besten zählen.
Wie sie hat er ein Gespür für die einfachen und großen Gefühle. Beim Aufräumen entdeckte Yilmaz im Kühlraum eine weiße Lilie. Er steckte sie in eine verdreckte Vase und stellte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor die Kirche. Manchen Menschen trieb der Anblick Tränen in die Augen. „So etwas sagt alles“, meint Yilmaz. 134 Menschen starben in der Flut allein in Rheinland-Pfalz.
Der Florist findet keine neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Seit der Flut hat Yilmaz nur noch zwei Angestellte: eine Auszubildende und eine Floristin. Eine Kollegin hat die Flut derart mitgenommen, dass sie kündigte, eine andere ging in die Schweiz, und zwei weitere wurden schwanger. Es ist schwierig, Nachfolgerinnen und Nachfolger zu finden. Gleichzeitig wird die Konkurrenz für Fachgeschäfte durch das wachsende Blumensortiment in Supermärkten größer. Allein in den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Auszubildenden in der Branche um drei Viertel reduziert, es gibt nur noch 2000 von ihnen.

Im Ahrtal fehlt Yilmaz nicht nur der Nachwuchs, sondern auch Kunden. Die Gastronomie- und Hotelbetriebe zählten zu seinen wichtigsten Abnehmern. Er schmückte ihre Tische, Foyers und Gästezimmer mit Blumengestecken, gestaltete je nach Jahreszeit. Aber kaum ein Hotel hat ein Jahr nach der Katastrophe wieder geöffnet.
„Das müsste alles viel schneller gehen. Aber wir wurden vergessen“, sagt er. Mit seiner zerfurchten Hand, gezeichnet von scharfen Blattkanten und Dornen, zieht er langsam eine Pfingstrose aus dem Bündel in seinem Arm, zupft die Stilblätter ab und schneidet den Stil schräg an. „Am Anfang war die Hilfe groß, aber wie geht es jetzt weiter?“, fragt er, ohne eine Antwort zu erwarten. Dann steckt er die Blume im Beet in ein Dickicht aus Miscanthusgräsern, Lilien und Weinreben. Es sind die letzten Handgriffe, bevor die Installation für die Landpartie fertiggestellt ist.
Im nächsten Jahr möchte er den Laden eröffnen
„Wir brauchen Hilfe und Gelder, keine Feiern mit Politikern“, sagt Yilmaz. Der Unmut des ganzen Ahrtals scheint in seiner Stimme zu liegen. Zum Jahrestag war ein Trauerfestakt für 155.000 Euro in Bad Neuenahr-Ahrweiler geplant, während in der Innenstadt noch Bagger Straßen aufreißen und Bauarbeiter an anderer Stelle den aufgerissenen Asphalt versiegeln. Protest regte sich gegen die hohen Kosten für die Trauerfeier, und der Kreistag beschloss, nicht mehr als 30.000 Euro auszugeben. Als Gäste wurden zum Jahrestag der Katastrophe Bundespräsident Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz und Landesministerin Malu Dreyer erwartet. „Die sollen die versprochenen Milliarden freimachen“, sagt Yilmaz.

Am nächsten Tag steht Yilmaz um zehn Uhr in geblümten Hemd vor seiner Installation. Insgesamt 4500 Blüten hat er mit seinen Helfern drapiert, in Beete gesteckt und in Weinreben geflochten. Er wirkt zufrieden. Vor dem Tor zur Burg steht bereits eine Menschenschlange, 200 Meter lang. Als die Sicherheitskräfte die Wartenden einlassen, gehen einige zielstrebig den Kiesweg zum Burghof entlang. Der Duft von Pfingstrosen ringt mit dem Parfüm der Besucherinnen und Besucher. Dass die Installation eine Hommage an das Ahrtal ist, wissen die Wenigsten, der Name steht nicht im Programmheft.
Harald Ratzke, 69, weiß aber um die Bedeutung. Er ist ein rüstiger Mann in Steppjacke, mit grünem Filzhut und zum zehnten Mal bei der Landpartie. Immer kommt er als Erstes zur Blumen-Installation, schießt ein Bild und klebt es später in ein Fotoalbum. „Jede Blüte ist jetzt ein Hoffnungsschimmer, das ist nach so einer Katastrophe wichtig“, sagt er, der oft im Ahrtal wandern geht.
Auch für Yilmaz ist die Ausstellung ein Lichtblick. „Es ist gut, sie zu haben. Ich glaube aber nicht, dass der Jahrestag etwas ändern wird. Das müssen wir selber machen“, sagt er. Sein Geschäft in der Innenstadt kann er nicht weiterführen, der Mietvertrag wurde nicht verlängert. Aber er hat nur ein paar Meter weiter eine größere Gewerbefläche gefunden. Bauzäune schirmen die neuen Schaufenster noch ab, drinnen sind die Steinwände freigelegt, es riecht nach Zementstaub. Für Yilmaz ist es der Geruch von Neuanfang. Im nächsten Jahr möchte er den Laden eröffnen. Er sagt: „Aufgeben kommt nicht infrage.“
Die Textrecherche wurde gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Neustart Kultur und VG Wort.