Mitten im prächtigen Park des Militärkrankenhauses Val-de-Grace im 5. Pariser Arrondissement steht ein riesiger weißer Kubus. Ein unübersehbares Dior-Logo prangt darauf. Hunderte von Menschen strömen in das für die Männermodenschau der Marke aufgebaute Gebäude, halten beim Betreten ihre Smartphones in die Höhe. Denn im Inneren wartet eine spektakuläre Kulisse: Zwei nachgebaute, elegante Landhäuser stehen sich dort gegenüber, getrennt von grünen Hügeln, mit echtem Gras bedeckt, und endlosen Blumenmassiven, im Hintergrund das Meer als Fototapete. Instagramtauglicher könnte ein Bühnenbild kaum sein.
Als kurz vor Beginn der Show dann noch Naomi Campbell, Justin Timberlake und David Beckham mit Sohn Cruz in der ersten Reihe Platz nehmen, hält auch der letzte Gast in den grasbewachsenen Rängen nicht mehr still. Die Dior-Show, bei der die Herren-Entwürfe für das Frühjahr des kommenden Jahres gezeigt wurden, erinnerte fast an die Zeiten des verstorbenen Karl Lagerfeld. Immer wieder ließ dieser die aufwendigsten Settings unter die Kuppel des Grand Palais bauen. Auch andere bombastische Schauen, Cocktail-Events und After-Show-Partys sorgten dafür, dass die Pariser Fashion Week wirkte, als habe es die Covid-Krise nie gegeben.
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Von einer großen Moderevolution, von der während des ersten Lockdowns noch geträumt wurde, scheint niemand mehr zu sprechen. Damals forderten einige Designer (darunter Dries Van Noten und Marine Serre) in einem offenen Brief, dass sich der Rhythmus der Modeproduktion und Modewochen ändern, dass er sich verlangsamen müsse. Es gebe zu viele Kollektionen, hieß es. Auch A.P.C.-Designer Jean Touitou kritisierte in einem Interview mit der Berliner Zeitung den Druck der Fashion Weeks und schlug vor, weniger Events zu machen.

Von einem echten Wandel ist – abgesehen davon, dass die Shows nun ausnahmslos auch per Live-Stream gezeigt werden – zwei Jahre später kaum etwas zu spüren. Die meisten Modehäuser veranstalten wieder physische Shows, die großen Marken zeigen mindestens vier Kollektionen pro Jahr. Auch Dries Van Noten kehrte zum ersten Mal seit 2020 mit einer echten Modenschau nach Paris zurück.

Ein ohrenbetäubender Knall, als hätte eine Bombe eingeschlagen, eröffnete sein Defilee auf dem Dach einer Autowerkstatt im 18. Arrondissement. Für seine Frühjahrskollektion 2023 ließ sich der belgische Designer von den Zazous inspirieren, einer Pariser Subkultur während des Zweiten Weltkriegs, die in Ästhetik und Attitüde der deutschen Swing-Jugend entsprach. Hier und dort tanzte die Jugend damals ihre herben Sorgen einfach weg. Ein Hang zum Eskapismus, den heute womöglich viele junge Menschen nachempfinden können.

Van Noten jedenfalls interpretierte besagte Subkultur als stilisierte, dandyhafte Looks mit zahlreichen Elementen, die zwischen Maskulinität und Weiblichkeit changieren. Eine enge, nudefarbene Korsage etwa lässt er wie eine Art Rock über weißem Hemd und Anzughose tragen. Spaghettiträger-Tops kombiniert Van Noten zu klassischen Bundfaltenhosen oder klobigen Cowboystiefeln. Ohnehin ziehen sich als feminin gelesene Details wie ein roter Faden durch die Herren-Kollektionen.

Nigo, seit zwei Saisons Chefdesigner bei Kenzo, zeigte bewusst genderfluide Looks: Jungs in Röcken oder Leggings, Unisex-Anzüge und Matrosenlooks für Männer wie für Frauen. Auch die Traditionsmarke Hermès bewies einen Sinn für mehr Weiblichkeit in der Männermode: fließende Stoffe, tief ausgeschnittene Dekolletees und zarte Fliedertöne. Bei Paul Smith waren zwar noch immer hauptsächlich klassische Anzüge zu sehen, aber auch hier wirkten die Stoffe und Silhouetten fließender und weicher als zuvor.

Der kürzlich verstorbene Kreativchef der Menswear von Louis Vuitton, Virgil Abloh, bediente sich für seine Männermode häufig in der Frauengarderobe. Die Vuitton-Show dieser Saison war die erste, die gänzlich ohne ihn durchgeführt werden musste, als kollektives Werk seines Ateliers. Inmitten einer riesigen Kulisse, die den Brücken und Kurven einer vergrößerten Kindereisenbahn nachempfunden war, und umgeben von riesigen, aufblasbaren Bällen, spielte die Kollektion liebevoll mit kindlich-naiven Details.

Weiße Papierflugzeuge landeten als eine Art 3-D-Stickerei auf einem schwarzen Anzug. Gefaltete „Papier“-Hüte waren aus hochwertigem Leder gemacht. Der Vuitton-Mann trägt wie selbstverständlich auch Plisseeröcke, Schleppen und Drapierungen. Begleitet wurde die Show von der Marschkapelle der Florida A&M University aus Tallahassee und dem Rapper Kendrick Lamar mit Dornenkrone, der in der Front Row sitzend und in gebetsartigem Sprechgesang den verstorbenen Virgil Abloh pries: „Virgil forever. Virgil forever“. Eine grandiose Hommage, die gleichzeitig sentimental und optimistisch stimmte.
Jean Touitou hatte es vor zwei Jahren bereits geahnt: Trotz seiner Kritik am Schauen-Rhythmus meinte er, dass das Erlebnis von Modenschauen durch nichts zu ersetzen sei. Das hat auch diese Fashion Week gezeigt. „Wir brauchen sie, um Interesse zu wecken und Wünsche zu erzeugen“, sagte er damals. Sein Anliegen, dass dennoch alle einen Gang runterschalten, scheint derzeit allerdings wieder in weite Ferne gerückt zu sein.