Stilkritik: Berliner Brautmode auf dem Red Carpet – brillant oder unpassend?
Ob Oscars, Golden Globes oder Grammys: Viele Frauen entschieden sich in dieser Award-Saison für eine weiße Robe. Aber ist das überhaupt zulässig?

Man hätte vorab eine illustrierte Liste zur Hand nehmen sollen. Eine mit Polaroids zum Beispiel, die zeigen, für welche Robe, welches Kleid, welchen Fummel sich die vielen prominenten Gästinnen der diesjährigen Oscarverleihung entschieden haben. Dann nämlich wäre die Wahl der Auslageware nicht so unglücklich ausgefallen.
Der rote Teppich war in diesem Jahr das erste Mal nicht rot. Sondern champagnerfarben. Eine eigentlich sinnvolle Entscheidung, schließlich beißen sich mit Rot viel mehr Töne als mit dem relativ dezenten, prickelnden Schampus-Beige. Pinkfarbene Kleider, orangefarbene Kleider, Kleider in Rosé können auf einem roten Teppich mitunter furchtbar aussehen. Auf neutral hellem Grund aber leuchten satte Töne umso mehr.
Nun wusste man bei der Wahl des neuen Bodenbelags nur leider nicht, dass Pink, Orange und Rosé in dieser Award-Saison eine untergeordnete Rolle spielen würden. So wie beinahe alle anderen Leuchtnuancen. Stattdessen: Blasse Stoffe, so weit das Auge reicht; Roben und Abendkleider in Weiß, Beige, Creme, Eierschale, Ecru – und ja – auch in Champagner. Dementsprechend sehen die vielen Fotos vom nichtroten Oscar-Teppich nun ein bisschen farblos aus.
Das Berliner Label Kaviar Gauche war gleich mehrfach präsent
Ein Blick auf die jetzt zu Ende gegangene Award-Saison offenbart außerdem: Die helle Robe hat derzeit Konjunktur. Schon auf den Golden Globes im Januar war sie allgegenwärtig – von Chloe Flowers eierschalenfarbenem Vokuhila-Kleid des Designers Stéphane Rolland bis zu Claire Danes cremefarbenem Dress von Giambattista Valli.
Für die Grammys wenig später entschieden sich dann die Musikerinnen Julia Michaels und Hillary Scott sowie Schauspielerin Megan Fox für jeweils völlig farbenfreie Roben. Und zwischendurch bewiesen einige Besucherinnen der Berlinale: Der Auftritt ganz in Weiß sieht nicht nur nach Hochzeit aus – mitunter ist es tatsächlich das wirklich echte Brautkleid, das hier zweckentfremdet wird.
Ganz in Weiß
Die Choreographin Nikeata Thompson zum Beispiel trug einen mehrlagigen Tüll-Entwurf der Berliner Brautmodenmarke Kaviar Gauche. Ein Label, für das sich auch Berlinale-Moderatorin Hadnet Tesfai entschied, und das gleich zweimal: Auf dem Teppich (in Berlin blieb man hier beim obligatorischen Rot) leuchtete ihr blütenweißes Ensemble aus ausgestellter Hose und Cape-artigem Oberteil; später auf der Berlinale-Bühne strahlte Tesfai in einem weißen One-Shoulder-Abendkleid mit üppigem Rüschendetail.
Auch auf den anderen Award-Shows war das Berliner Label vertreten: Daniel Brühls Ehefrau Felicitas Rombold trug es zu den Golden Globes, die Gattin des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund zu den Oscars. Bei dem wichtigsten Preis der Filmbranche außerdem ganz in Weiß unterwegs: Sofia Carson, Emily Blunt, Michelle Williams, Rooney Mara, Zoe Saldaña, Ariana DeBose, Michelle Yeoh – die Liste ist lang und hochkarätig.
Vogue und Harper’s Bazaar haben den gewinnbringenden Trend erkannt
Stellt sich nur die Frage: Darf frau das, ein Brautkleid zur Award-Show tragen? Oder passt der blütenreine Auftritt nur zu Standesamt und Kirche? Es lässt sich nicht leugnen, dass seine nun so augenfällige Omnipräsenz auch in hochzeitsfremden Bereichen dem weißen Kleid etwas von seiner Einzigartigkeit nimmt. Dass der Status als „Kleid der Kleider“ zu bröckeln droht.
Wen aber soll das schon kümmern – sind die Vorzüge des weißen Kleides, ganz egal wo getragen, doch so furchtbar verlockend: Es lässt seine Trägerin frisch und jugendlich aussehen, passt zu beinahe jeder Haut- und Haarfarbe. Wer ein komplett weißes Outfit trägt, lenkt die Aufmerksamkeit auf andere schöne Dinge, auf hübsche Schuhe und eine Tasche etwa – oder noch besser: auf das Gesicht. Zudem ist Weiß zumindest in den westlichen Kulturen mit positiven, gar überirdischen Assoziationen belegt.
Und die Mode selbst zieht ohnehin ihre Vorteile daraus, das weiße Kleid auch über rote und champagnerfarbene Award-Teppiche zu schicken. „Acht hochzeitstaugliche Oscar-Kleider“ – so oder so ähnlich waren in den vergangenen Tagen zahlreiche Artikel in einschlägigen Gazetten überschrieben. Gut für die abgebildeten Modefirmen, für die der Filmpreis so zur effektiven Werbeplattform wird.
Zwar kann die Markenwahl einer berühmten Award-Gängerin ohnehin den Umsatz eines Labels ankurbeln. Im Vorschlag einer weißen Designerrobe als Brautkleid aber liegt für sie erst recht fulminantes Potenzial. Schließlich ist die Hochzeit der einzige Anlass, für den sich auch die gänzlich unprominente Kundin an Entwürfe höchster Güte – und höchster Preise wagt.
Eine einzige Gelegenheit gibt es übrigens doch, für die sich das weiße Kleid ganz und gar verbietet. Nur für derzeit sieben Frauen nicht, die europäischen Königinnen und Prinzessinnen katholischer Königshäuser nämlich. Denn nur ihnen ist es erlaubt, bei einer päpstlichen Privataudienz ganz in Weiß zu erscheinen. „Privilège du blanc“ wird diese alte Tradition genannt – „das Privileg des Weiß“.