Wer braucht schon Influencer? Wie zwei Berliner die Modewerbung revolutionieren

Visionary Services ist eine Agentur für Influencer – dabei lehnen die Gründer diesen Begriff ab. Was machen sie anders als die anderen? 

Talents wanted: Marcel-Dejan Meyer (links) und Nubian Smith präsentieren sich und ihre Models mithilfe von Fahndungsfotos. 
Talents wanted: Marcel-Dejan Meyer (links) und Nubian Smith präsentieren sich und ihre Models mithilfe von Fahndungsfotos. Jonas Berndt

Ein Abend auf der Berliner Fashion Week, die Modenschau des Labels Namilia: Duc Nguyen ist gekommen, ein Talent der Agentur Visionary Services mit mehr als 200.000 Followerinnen und Followern auf TikTok. Talents nennt die Berliner Agentur die bei ihnen unter Vertrag stehenden Menschen, für die sie das Management übernimmt.

Im Internet gibt Duc Nguyen Styling-Tipps und lädt Outfitideen hoch; zu seinen liebsten Modetricks gehört der Stilbruch. Und auch vergangene Woche, als Gast der Namilia-Show, kombiniert er Hemd und Krawatte eben nicht mit einem Sakko, sondern mit einer rot-schwarzen Lederjacke, dazu eine Sonnenbrille im Siebziger-Jahre-Style.

Neben ihm läuft Nubian Smith auf die Sitzplätze am Laufsteg zu; in seinem Power-Ranger-Look kann man ihn erst mal gar nicht erkennen. Er trägt passend zum Anlass einen rot glänzenden Racing-Anzug von Namilia, darunter ein hautenges, bauchfreies Crop Top in Schwarz, seine Füße stecken in großen Schneeboots. Das Highlight seines Looks ist der schwarze Helm mit dem hochgeklappten Visier und den eingebauten roten LED-Leuchten. Wo man so etwas herbekommt? „Hab ich auf Etsy gefunden“, sagt Smith.

Wir sehen unsere Talents als Künstler an, die Menschen inspirieren und nicht nur beeinflussen sollen.

Marcel-Dejan Meyer

Ernste Mienen, klotzige Boots, enge Tops und dunkle Sonnenbrillen trotz hell erleuchteter Innenräume: Die Outfits der beiden, auch die der anderen Gäste dieser Modenschau sind auffällig. Sie sehen fast ein wenig außerirdisch aus, oder wie aus der Zukunft zugereist.

Die Influencer-Marketing-Agentur Visionary Services, bei der Duc Nguyen unter Vertrag steht und von der Nubian Smith einer der Gründer ist, gibt es erst seit zweieinhalb Jahren. Aber ihre Talents sind bereits jetzt nicht mehr wegzudenken aus den ersten Reihen der Modenschauen – nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris, Mailand oder New York. Neben Smith gehört auch Marcel-Dejan Meyer zu den Gründern der Agentur.

Unterwegs als Power Ranger: Manager Nubian Smith (re.) mit Duc Nguyen auf der Namilia-Modenschau.
Unterwegs als Power Ranger: Manager Nubian Smith (re.) mit Duc Nguyen auf der Namilia-Modenschau.Franka Klaproth/Berliner Zeitung

Möchte eine Marke ein neues Produkt bewerben, so gehören Influencer seit Jahren zum festen Bestandteil ihrer Marketingstrategie. Als Stars einer jungen, kaufkräftigen und konsumbereiten Generation eignen sie sich optimal als Werbepartner: Eine große Reichweite ist garantiert, Werbebotschaften lassen sich mitunter authentisch und subtil vermitteln. Auch wenn Influencer seit einigen Jahren durch ein neues Gesetz dazu verpflichtet sind, Werbeinhalte als solche zu kennzeichnen.

Nicht selten wird ihnen vorgeworfen, käuflich zu sein – der Begriff „Influencer“, also „Beeinflusser“, gerät zunehmend in Verruf. Auch Nubian Smith und Marcel-Dejan Meyer sind theoretisch Influencer, wenngleich sie den Begriff ablehnen – sie bezeichnen sich und die anderen Menschen in ihrer Kartei lieber als Talents, englisch ausgesprochen, versteht sich.

„We do more than influence“, lautet denn auch der Slogan von Visionary Services – „wir wollen mehr als beeinflussen“. Eher wolle man sich vom Stereotyp des Werbegesichts im Internet distanzieren. „Wir sehen unsere Talents als Künstler an, die Menschen inspirieren und nicht nur beeinflussen sollen“, sagt Marcel-Dejan Meyer. So sei der Modestil von jeder und jedem einzelnen in ihrer Agentur eher individuell und solle auch ihre Fans dazu ermutigen, sich selbst mithilfe der Mode zu verwirklichen.

Mir wurde gesagt, mit Nubian kannst du sogar eine Pommesbude aufmachen und die wird ein großer Erfolg.

Marcel-Dejan Meyer

Bevor Nubian Smith und Marcel-Dejan Meyer ihre Agentur gründeten, kannten sie sich nur flüchtig, hatten sich mal auf Partys oder Modenschauen gesehen. Dann leuchtete Meyers Nummer auf dem Smartphone seines jetzigen Geschäftspartners auf. Er habe keine Ahnung gehabt, was dieser Typ von ihm wolle, „ich wusste nur, dass er im Vertrieb arbeitete“, sagt Smith nun, während er einen Kaffee kocht in der Prenzlauer-Berg-WG, in der die beiden mittlerweile zusammen wohnen. „Ich dachte schon, er will mir eine Versicherung andrehen.“

Meyer lebte damals noch in Hamburg und arbeitete nebenberuflich als Stylist; Smith studierte Marketingmanagement in Gütersloh. Mode war für beide eher ein Hobby, eine Leidenschaft, die sie auf Social Media auslebten; ein paar Tausend Followerinnen und Follower auf Instagram hatten beide schon damals. Meyer sah darin das Potenzial für eine eigene Agentur. „Mir wurde gesagt, mit Nubian kannst du sogar eine Pommesbude aufmachen und die wird ein großer Erfolg“, sagt er nun und lacht. „Außerdem verstanden wir uns ziemlich gut, wir hatten uns zum Beispiel aus Zufall im Berghain getroffen, als wir beide zum ersten Mal dort waren.“ Die erste Berghain-Erfahrung gemeinsam erleben – so etwas verbindet, meinen die jetzigen Agenturchefs.

Von Gütersloh und Hamburg in den Prenzlauer Berg: Berlin stand für die beiden als geeigneter Ort für ihre Agentur schnell fest.
Von Gütersloh und Hamburg in den Prenzlauer Berg: Berlin stand für die beiden als geeigneter Ort für ihre Agentur schnell fest.Jonas Berndt

„Trotzdem war ich anfangs ein wenig skeptisch“, sagt Smith. Eine Agentur gründen bedeute schließlich, sich selbstständig zu machen. Und das sei mit großen Risiken verbunden. „Womit Marcel mich dann gekriegt hat? Mit dem Argument, dass wir in der Modeszene was verändern könnten“, so Smith. So sei es auch zum Namen „Visionary Services“ gekommen: Die beiden sehen sich als Visionäre und Künstler, wollen gesellschaftliche Regeln und Gendernormen durch die Mode hinterfragen.

Worauf wir schauen ist die Kreativität, Individualität und Persönlichkeit, das ist natürlich nicht so einfach messbar.

Nubian Smith

Genau diese Eigenschaften suchen sie auch in den Talents, die sie unter Vertrag nehmen. „Wir waren von Anfang an wählerisch“, sagt Smith. Normale Agenturen würden ihre Influencerinnen und Influencer an sogenannten Key Perfomance Indicators (KPIs) messen, also an Followerzahlen oder Likes. „Worauf wir schauen ist die Kreativität, Individualität und Persönlichkeit“, meint Smith, „das ist natürlich nicht so einfach messbar.“

Im Prenzlauer Berg liegt auch das Büro von Visionary Services. Mittlerweile kümmern sich dort zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um die knapp 40 Talents der Agentur, die mit kleinen Fotokacheln an einer Wand verewigt sind: Statt als gewöhnliche Porträts sind die Fotos als sogenannte Mugshots inszeniert, also als Fahndungsfotos. Auch auf ihrer Internetseite stellt die Agentur ihre Talents mit solchen Bildern vor. An einer anderen Wand hängen Kampagnenbilder von Marken, mit denen Visionary Services bereits zusammengearbeitet hat: Jean Paul Gaultier, Prada, Adidas.

Kreativ, nicht kriminell: Einige Talente von Visionary Services, jede und jeder mit einem individuellen Motto auf dem Fahndungsfoto. 
Kreativ, nicht kriminell: Einige Talente von Visionary Services, jede und jeder mit einem individuellen Motto auf dem Fahndungsfoto. Visionary Services

Dass sich alle Models der Agentur irgendwie vom Gewöhnlichen abheben wollen, ist wohl ihre einzige Gemeinsamkeit. Und: Dass die Mode ihr Hauptthema ist. „Lifestyle-Influencer zum Beispiel nehmen wir nicht an“, sagt Smith. Ansonsten sei das Portfolio der Agentur möglichst divers aufgestellt, so Meyer, „und damit meine ich nicht nur Haut- und Haarfarben, sondern auch Looks und Charaktere“. Das führe letztlich auch dazu, dass ihre Talents weniger untereinander in Konkurrenz gehen müssten, wenn eine Firma mit einem Werbeauftrag an die Agentur herantritt. 

Zwar seien viele unterschiedliche Stile – von den aktuell so angesagten 2000ern bis zum Minimalismus – vertreten. „Eine Sache, die wir aber besonders repräsentieren wollen, ist Genderless Fashion“, sagt Marcel-Dejan Meyer; Kleidung also, die Geschlechtergrenzen negiert oder zumindest infrage stellt.

Auch Smith und Meyer arbeiten neben ihrer neuen Rolle als Unternehmer weiterhin an ihrer Social-Media-Karriere. „Ich zum Beispiel habe meinen Kleidungsstil drastisch geändert“, sagt Smith. Als er mit den sozialen Medien anfing, pflegte er noch einen eher minimalistischen Look. Heute verstehe er sich als „Futuristic Alien“, ein Wesen aus fernen Galaxien oder aus der Zukunft eben, siehe der Power-Ranger-Aufzug.

Zuerst wollte niemand etwas mit uns zu tun haben, wir haben uns gefühlt wie die Zecken der Branche.

Nubian Smith

Damals, als die beiden noch nicht zu ihrem jetzigen Look gefunden und ihre Agentur gerade erst gegründet hatten, arbeiteten sie noch in verschiedenen Städten im Homeoffice – der eine in Hamburg, der andere in Gütersloh. Zwischen dieser Zeit und dem jetzigen Büro mit zwölf Angestellten hätten viele schlaflose Nächte und harte Arbeit gelegen, so Smith. „Das erste Talent hatten wir schnell unter Vertrag, die erste Kampagne auch relativ zügig, danach war aber erstmal Flaute.“

Ständig seien die beiden zwischen Gütersloh und Hamburg hin- und hergependelt, hätten unzählige Mails und Telefonate ausgetauscht, einen Kaffee nach dem anderen getrunken. „Zuerst wollte niemand etwas mit uns zu tun haben, wir haben uns gefühlt wie die Zecken der Branche“, sagt Smith. Ihr Konzept sei wohl zu ungewöhnlich gewesen, „einmal lehnte eine Marke eines unserer männlichen Talents ab, weil er sich angeblich zu feminin und zu leicht bekleidet präsentierte.“

Der Signature-Look der Agentur: Crop Tops, exaltierter Schmuck und – die dürfen auf keinen Fall fehlen – Sonnenbrillen. 
Der Signature-Look der Agentur: Crop Tops, exaltierter Schmuck und – die dürfen auf keinen Fall fehlen – Sonnenbrillen. Platte Berlin

Trotzdem hielten die beiden durch, konzentrierten sich nicht nur auf den deutschen, sondern auf einen internationalen Markt. „Wir haben auch schnell Talents aus anderen Ländern wie den USA unter Vertrag genommen.“ Wer digital arbeite, sich um digitale Geschäfte kümmere, sei schließlich nicht an einen Standort gebunden. Gerade diese Internationalität bedeute mitunter aber auch Mehrarbeit.

„Wegen der Zeitverschiebung haben wir gerade am Anfang oft nachts gearbeitet, um zum Beispiel mit australischen Brands zu verhandeln.“ Als Management-Agentur verhandelt Visionary Services zwischen Marke und Talent, zum Beispiel Honorare für Werbeposts oder Kampagnen. 

Jean Paul Gaultier, Prada, Adidas: Die Wände des Büros im Prenzlauer Berg zieren Kampagnenfotos einiger Marken, mit denen die Agentur zusammenarbeitet.
Jean Paul Gaultier, Prada, Adidas: Die Wände des Büros im Prenzlauer Berg zieren Kampagnenfotos einiger Marken, mit denen die Agentur zusammenarbeitet.Jonas Berndt

Doch die Mühe hat sich ausgezahlt. „Zu Beginn mussten wir jedes Honorar von Kampagnen gänzlich in Arbeiten wie Editorials oder Zugtickets für unsere Talents stecken, irgendwann konnten wir aber auch erste Rücklagen machen“, sagt Smith. Mittlerweile haben die beiden ihr Unternehmen ausgeweitet, ein digitales Modemagazin namens „Visionary Magazine“ gegründet und für TikTok Projekte verwirklicht.

Mit verschiedenen Models waren sie in den vergangenen Jahren auf den Fashion Weeks in New York, Mailand und Paris präsent, auch beim Coachella-Festival in Los Angeles. Bei der Berlin Fashion Week veranstaltete die Agentur in der vorigen Saison eine Party, vergangene Woche luden sie dann verschiedene Medienvertreterinnen und -vertreter zu einem PR-Brunch ein. Auch die ehemalige Vogue-Chefin und jetzige Vorstandsvorsitzende des Fashion Council Germany, Christiane Arp, schaute vorbei. Für Visionary Services sei das ein persönlicher Meilenstein gewesen, betonen die Gründer.

Eine Marke, in der sie sich wiedererkennen: Zum PR-Brunch auf der Fashion Week erschienen die Gründer von Visionary Services in Ola Kala gekleidet.
Eine Marke, in der sie sich wiedererkennen: Zum PR-Brunch auf der Fashion Week erschienen die Gründer von Visionary Services in Ola Kala gekleidet.Franka Klaproth/Berliner Zeitung

Beim Brunch stellen sie auch eine der Marken vor, mit der sie schon seit beinahe zwei Jahren eng zusammenarbeiten: Ola Kala, das Streetwear-Label der beiden Influencer Inscope21 und Tim Gabel. „Die neuste Kollektion beschäftigt sich damit, wie Maskulinität in der heutigen Gesellschaft wahrgenommen wird und sich diesem Bild mit neuen Schnitten, Farben und Silhouetten entgegenstellt“, erklärt Marvin Lange, Projektmanager bei Visionary Services, den Gästen. Bei Ola Kala gebe es keine Unterteilung in Herren- und Frauenkleidung.

Wir wollen jeden dazu anregen, auch secondhand zu kaufen oder mal in hochwertigere Stücke zu investieren.

Marcel-Dejan Meyer

Doch zurück in die Prenzlauer-Berg-WG, zu den beiden Agenturgründern, die auf das Thema Nachhaltigkeit in der Mode zu sprechen kommen. Das sei ihnen wichtig. Wie das mit der Schnelllebigkeit ihres Geschäftes, der digitalen Werbung, die zum Konsum anregen soll, zusammenpasst? Zum einen sei doch die Frage, was nach dem Kauf mit den beworbenen Sachen passiere, findet Meyer. Er und sein Geschäftspartner verkaufen oder verschenken ihre Mode oft weiter; auch ein eigener Visionary-Services-Flohmarkt sei geplant. 

„Außerdem haben wir die Entscheidungsmacht, mit welchen Marken wir zusammenarbeiten“, sagt Meyer. Anbieter wie Primark seien für sie keine Option. „Wir wollen jeden dazu anregen, auch secondhand zu kaufen oder mal in hochwertigere Stücke zu investieren und diese dafür länger zu tragen.“ Einige ihrer Influencer würden auch selbst Kleidung anfertigen. Gerade hier, bei jungen, aufstrebenden Talenten, die selbst Mode machen, sehe er großes nachhaltiges Potential, so Smith. 

Ihren Enthusiasmus kann offenbar keine kritische Frage trüben. Auch nicht die nach der Schnelllebigkeit ihres Geschäftes, den ständigen Veränderungen, die womöglich auch den gesamten Influencer-Bereich demnächst obsolet macht. Schließlich gibt es nun das Metaverse, einen virtuellen Raum, der der physischen Kleidung und damit auch der Werbung dafür gehörig Konkurrenz machen könnte. Meyer und Smith zeigen sich davon unbeeindruckt: „Wenn es das Metaverse gibt, dann gibt es auch Visionary Services im Metaverse.“