Texte vorher lesen, Herr Koch

Eigentlich hatte Wolfgang Schäuble gar nichts sagen wollen zu dem Debakel um den Hessischen Kulturpreis, bei dem in diesem Jahr der tolerante Geist und der interreligiöse Dialog hatten gewürdigt werden sollen. Bei dem dann aber das genaue Gegenteil eintrat (BLZ vom 19. 5.): Nicht tolerant, sondern ausgesprochen engstirnig zeigten sich die christlichen Würdenträger Kardinal Lehmann und Peter Steinacker. Gemeinsam mit dem muslimischen Schriftsteller Navid Kermani wollten sie nicht geehrt werden, weil dieser sich kritisch zu einer Kreuzigungsszene geäußert hatte, ihrer Meinung nach gotteslästerlich. Beflissen entschied daraufhin die hessische Jury unter Vorsitz von Ministerpräsident Roland Koch, Kermani den Preis einfach wieder abzuerkennen. Hätte sich das bei einem Preisträger einer anderen Konfession genauso zugetragen? Oder ist das nicht ein Beispiel dafür, wie wenig Respekt Muslime in Deutschland nach wie vor genießen? Denn schließlich handelt es sich bei Kermani um einen äußerst verdienten, der religiösen Intoleranz unverdächtigen Mann. Direkt mochte Wolfgang Schäuble auf diese Frage im Wissenschaftskolleg, wo er mit dem muslimischen Rechtsgelehrten Abdullahi An-na'im und dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm über das Verhältnis von Islam und säkularem Staat diskutierte, erst gar nicht antworten.Aber dann verpasste er dem hessischen Parteifreund Koch doch eine schallende Ohrfeige: "Es empfiehlt sich für jeden, Texte vorher zu lesen", sagte Schäuble. Und dass ja alle das Ganze erst aus der Zeitung erfahren hätten, als "das Kind schon längst in den Brunnen gefallen war." Am Ende zeigt die Empörung, mit der deutschlandweit auf den Vorgang reagiert wurde, dass Dialog und Respekt eben doch weiter voran geschritten sind, als man es in Hessen vielleicht vermutet hatte. Wie schwierig sich dieser Dialog zwischen Staat und Muslimen aber nach wie vor gestaltet, wurde auch im Wissenschaftskolleg deutlich. Wie geht der Staat damit um, dass Muslime nicht institutionell organisiert sind, so wie die christlichen Kirchen? Haben sie dann keine Möglichkeit, die gleiche öffentliche Anerkennung und die gleichen Rechte zu erlangen? Wenn es die Aufgabe des Staates ist, die Religion zu respektieren und zu schützen, so gab Abdulaahi An-Na'im zu bedenken, müsse sie doch ihre Art der Organisation respektieren, die Teil ihres Wesens ausmache. So weit wollte Dieter Grimm nicht gehen, aber auch er gab zu bedenken, dass es der Staat mit Forderungen nach der Institutionalisierung nicht übertreiben solle.Nur Wolfgang Schäuble mochte nicht recht mittun. Nicht der deutsche Staat stelle der Forderungen an die Muslime, sondern umgekehrt wollten die Muslime etwas vom deutschen Staat, etwa islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Er ließ alle Konsequenzen im Ungefähren und wurde dennoch deutlich: Es sei in schwierigen Zeiten nicht leicht, offene Gesellschaften tolerant zu halten. Es brauche dazu Selbstvergewisserung und eine Rücksichtnahme der Minderheiten auf die Mehrheitsgesellschaft. Sicher, aber mancher, wie Navid Kermani, begreift sich wohl längst als Teil der "Mehrheitsgesellschaft" - bis auf den Umstand seines Muslim-Seins.