Tollkühner Witz: Das Braunschweiger Theater gastiert mit Nis-Momme Stockmanns "Inga und Lutz" in Berlin: Nutzfische

Der Autor wünscht sich einen "eleganten Sprecher (nach englischem Vorbild), feierlich gekleidet, in einem feinen ledernen Ohrensessel. Zu seiner Rechten eine Stehlampe". Ohne Scheu möge er ins Publikum schauen, "seine Gelassenheit", so des Dichters Wunsch, "ist weder chargiert noch ist sie zu echt". Zudem erbittet sich die erste Regieanweisung einen "weißen, leicht verschrundenen Schnellkochtopf mit schwarzen, grau marmorierten Plastikgriffen", Baujahr 1987. Nis-Momme Stockmann, geboren im Jahre 1981 auf der Nordseeinsel Föhr, viel bestaunter und inzwischen auch viel beschäftigter Dramenverfasser, einstweilen wohnhaft in Berlin-Neukölln, glaubt sehr genau zu wissen, wie seine Werke auf die Bühne gehören.Kaputte WaschmaschineAlexis Bug, geboren im Jahre 1973 zu Speyer, Regisseur, Autor und Schauspieler, weiß gottlob, dass dem Dichterwillen gehorsam zu sein mitweilen auch bedeutet, gegen ihn zu inszenieren. Er lässt in seiner Uraufführung von "Inga und Lutz. Oder: Die potentielle Holistik eines Schnellkochtopfs im Kosmos des Seins" keinen eleganten Sprecher und keinen 1987er Kochtopf auftreten. Stehlampen und Ohrensessel kommen auch nicht vor. Statt dessen: eine grell groteske, menschengroße Puppe, vier schrill komödiantische Figuren, ein Flachbildschirm, allerlei Bierflaschen und eine Waschmaschine.Die Waschmaschine ist kaputt, gleich am Anfang. Aber kaputt ist hier ohnehin alles: die Hoffnung, die Liebe, die Zukunft. Inga und Lutz, das Pärchen aus Neukölln, Freund Manni und Freundin Britta glauben dennoch, dass es irgendwann irgendwie besser wird. Wird es aber nicht. Es wird vielmehr alles ärger. Es fehlt an Geld, an Jobs, an allem letztlich. Am Ende liegt Inga hingemordet mit hohem, buntem Alptraumhut auf dem Boden, tot gehauen von Lutz und Manni.Nis-Momme Stockmanns Drama, sein erstes, verfasst bevor er mit "Kein Schiff wird kommen" und "Der Mann der die Welt aß" zu einiger Theaterbetriebsberühmtheit fand, ist ein lautes Stück Anklagedramatik; es berauscht sich am Pathos der Sozialkritik. "Ich möchte gar nicht viel vom Leben", hebt Manni einmal an, "mir ist eigentlich fast alles scheißegal. Ich möchte nur meine Ruhe haben. Mal ein kleines Haus haben. Vor der Küste Norwegens. Und ein großes Nutzfischaquarium." Von wegen. Manni möchte wie sein Autor sehr viel mehr: "Eine bessere Welt erschaffen. Eine ruhigere. In der Glück ohne Wachstum möglich ist." Wer möchte das nicht.Kaputte WeltFür Alexis Bug aber ist sozialkritischer Furor kein guter Weg zur besseren Welt. Er hat mit seiner Uraufführung Anfang Oktober am Staatstheater Braunschweig dankenswerterweise das Stück mit schrillem Witz und schnellen Szenenschnitten zur Sozialfarce verwandelt. Mit wunderbaren Komödienspielern, Anika Baumann als Inga vor allem.Bis zur letzten Spielzeit war sie für vier Jahre Ensemblemitglied am Maxim Gorki Theater; jetzt kommt sie mit diesem Braunschweiger Gastspiel in der Galerie Vittorio Manalese nach Berlin. In einer Inszenierung, die den Glauben an die Veränderbarkeit einer schlecht eingerichteten Welt befördert. Ganz im Sinne Stockmanns, auch wenn dieser forsch-fröhliche, tollkühn witzige Abend das Stück gegen seinen sozialkritischen Strich bürstet.-----------------------Inga und Lutz, 14. 12., 19 Uhr, 15. 12., 22 Uhr, Galerie Vittorio Manalese/Helmholtzstraße 2-9, Karten: 39800990------------------------------Foto: Was wächst da aus der Hirnrinde? Anika Baumann als Inga.