Uwe Rada schreibt den Lebenslauf der Oder - von den Quellen bis zur Mündung in die Gegenwart: Fremde frohe Laute

Nachdem die Oder jahrzehntelang von den meisten Deutschen nur als Grenzfluss, als geschichtsträchtiges Symbol für Krieg und selbstverschuldeten Verlust wahrgenommen wurde, hat sich ihr "Image" seit der Wende verändert. Man spaziert über die Oder-Brücken, besucht den "Europapark" in Frankfurt (Oder) auf der Insel Ziegenwerder, fährt nach Glogau/Glogów oder gleich nach Breslau, das mit seinen Oder-Inseln ein "Venedig des Nordens" geworden ist. Plötzlich steht die Oder nicht mehr für Peripherie und Ende, sondern für kulturlandschaftliche Kontinuität. Aus dem "Fluss des deutschen Ostens" und dem "Schicksalsfluss Europas" (Karl Schlögel) ist ein Fluss Mittelosteuropas geworden.Über die wechselhafte Wahrnehmung des Flusses, dem keine Hymnen geschrieben wurden wie der Moldau, der nicht wie der Rhein mit einem "Loreley"-Felsen in die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte (Bleuler, Brentano, Heine, Sichler) einging und nach dem auch keine Monarchie benannt wurde wie nach der Donau, schreibt Uwe Rada, taz-Redakteur und Buchautor, in "Die Oder. Lebenslauf eines Flusses". Das erste Kapitel lautet bezeichnenderweise "Die Wiederentdeckung der Oder".Rada berichtet in seiner Oder-Biografie von der Enthauptung des Jugendfreundes Friedrichs des Großen, Hans-Hermann Katte, welcher der junge Friedrich in Küstrin beiwohnen musste, von gewaltigen Modernisierungsmaßnahmen Mitte des 18. Jahrhunderts, von Ausflugsdampfern und Kohle-Kähnen, er erzählt von Eichendorff-Gedichten über die Oder bis hin zur neuen "Grenzlandliteratur", von den Teilungen Polens, von Überfall, Krieg, Flucht und Vertreibung, dem Umgang der Polen mit der deutschen Vergangenheit einiger Städte sowie der Hochwasserkatastrophe 1997. Der Fluss ist die Klammer für Schifffahrt, Poesie und Außenpolitik, die hier im wahrsten Sinne des Wortes fließend ineinander über gehen.Man erfährt von der kuriosen Besichtigung des Zisterzienserklosters Leubus durch Popstar Michael Jackson (der sich dort niederlassen wollte; dass es ihm ausgeschlagen wurde, wahr wohl ein "Segen für eines der beeindruckendsten Baudenkmäler" Europas, so Rada) und ebenso vom Bau der neuen Staustufe mit Rückhaltebecken in Malcyce. Am Beispiel Glogaus - es wurde im Krieg zu 95 Prozent zerstört, nur 1 000 Zivilisten überlebten den Wahnsinn der "Festungsstadt" - zeigt Rada, wie sich die großen Linien der Geschichte im Mikrokosmos einer Kleinstadt abzeichnen. Von der ersten slawischen Burgsiedlung im 10. Jahrhundert bis zur Ruinenstadt 1945, von der Reformation bis zum Westfälischen Frieden (Schlesien war überwiegend protestantisch), vom Nachkriegs-Wiederaufbau als "polnische Stadt" bis zur Neu-Errichtung des alten (deutschen) Rathausturms auf dem Rathausgelände in den 1980ern führt Rada Sternstunden (Gryphius stammt aus Glogau) und Verletzungen einer Region vor.Er betont jedoch verbindende Elemente, sprachliche, architektonische, sozialgeschichtliche "Brücken": So erfährt der Leser, wie im Wasserpolnischen (einem schlesischen Dialekt mit polnischer Einfärbung) das deutsche Wort "heizen" mit dem polnischen "ogrzewac" zu "heizowac" (ausgesprochen: heizowatsch) verknüpft wurde. Eichendorff hatte schon in seinem Gedicht "Jugendsehnen" enthusiastisch und hoffnungsvoll über "fremde frohe Laute" geschrieben, die ihn von der Oder her anwehen. Rada erwähnt aber auch die Nacht- und Nebelaktion, in der 1945 - nach sechs Jahrhunderten deutscher Geschichte - bis dato deutsche Städte, Dörfer, Flüsse und Landstriche plötzlich "urpolnische" Namen verpasst bekamen.Sehr interessant ist ein Vergleich zwischen den historiografischen "Kampfdisziplinen" der deutschen Ostforschung und der polnischen Westforschung in der Zwischenkriegs- und der Nachkriegszeit; statt einem Dialog wurden da zwei Monologe gehalten. Im Westen die Vertriebenenverbände, die sich für eine Revision der Ostgrenzen stark machten, dort die Ideologie der "wiedergewonnenen Gebiete".Aber dann gab es auch das "Wunder an der Oder": So nennen die Soziologinnen Katarzyna Stoklosa und Dagmara Jajesniak-Quast die Zeit von 1972 bis 1980, als die Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen geöffnet wurde. Es waren kleine Geschichten von Begegnungen, die sie davon überzeugten, dass im deutsch-polnischen Verhältnis entlang der Oder damals eine neue Ära anbrach.Als "Buch im Buch", in einer fortlaufenden Randspalte neben dem Haupttext, enthält der Band die Schilderung einer Oder-Reise Radas vom Ursprung des Flusses nahe Olomouc/Olmütz (Tschechien) bis hin zu seiner Mündung in die Ostsee bei Stettin. Es ist eine Art Reisetagebuch, das dem Sachbuchteil eine subjektivere Sicht, ein Stück "gelebte Geschichte" hinzufügt. Der Autor, der polnisch spricht, trifft Freunde, hat kuriose Begegnungen, testet die westpolnische Küche, begeistert sich für gutes filet z kurczaka, besucht kleine Fischerhäfen und staunt, dass in Grünberg/Zielona Góra bis ins 18. Jahrhundert erfolgreich Weinbau betrieben wurde.Geografie, Politik, Kultur- und Sozialgeschichte - von einem Fluss aus betrachtet: ein gelungenes Unterfangen.Tanja Dückers ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Der längste Tag des Jahres".------------------------------Foto: Die Oder tritt über die Ufer: Überschwemmung im Stadtteil Kozanów in Breslau, 1997.------------------------------Foto: Uwe Rada: Die Oder. Lebenslauf eines Flusses". Gustav Kiepenheuer, Berlin 2005. 224 S., 19,90 Euro.