Uwe Tellkamp im Gespräch über die Gespenster der Vergangenheit und seinen Roman "Der Turm": Es war wie ein böses Märchen

Herr Tellkamp, Sie sind mit Ihrem Roman "Der Turm" auf Lesereise. In Berlin waren Sie Gast der Konrad-Adenauer-Stiftung, einer der großen parteinahen Stiftungen des politischen Systems der Bundesrepublik. Haben sich eigentlich Ihre Vorstellungen von der Demokratie der Bundesrepublik bestätigt bzw. Ihre Erwartungen an diese erfüllt?Das ist eine schwierige, so einfach gar nicht zu beantwortende Frage, denn das setzt voraus, dass ich Vorstellungen von der Demokratie bzw. Erwartungen an sie gehabt hätte. Das war aber nicht der Fall. Ich war zur Wende 21 Jahre alt, habe dann bald mein Studium begonnen und hatte zunächst mal andere Dinge, die mich beschäftigt haben. Ich bilde mir schon ein, dass ich ein kritischer Beobachter der Gegenwart bin und mir gewisse Entwicklungen zu denken geben. Es gibt die Figur, die sich mir immer stärker herauskristallisiert, desjenigen, der 1989 auf die Straße ging für bestimmte Ideale, wo ich das Gefühl habe, dass der bald wieder auf die Straße gehen wird. Der also enttäuscht war von der DDR und gewisse Enttäuschungen auch von der Gegenwart hat. Stichworte Finanzkrise, Telekratie. Das ist ja die Frage, inwieweit wir Demokratie überhaupt noch haben in Zeiten von Fernsehen, Internet und so weiter? Aber das führt natürlich hier zu weit."Geschichte aus einem versunkenen Land" heißt Ihr Buch im Untertitel. Nun ist aber nicht das Land versunken, sondern der Staat, also die zur Machtausübung bestimmten Institutionen. Inwiefern ist für Sie auch das Land fort?Darüber habe ich lange nachgedacht und auch mit dem Lektorat gesprochen. Wir haben darüber diskutiert, den Untertitel "Geschichte aus einem versunkenen Staat" zu nennen. Aber ich war nicht dieser Meinung. Für mich ist auch das Land versunken. Das Land im Sinne der Landschaft ist zwar immer noch da, aber sie verändert sich. Diese alte Landschaft von damals gibt es nicht mehr. Meine Herkunft war geprägt von vielen nachkriegshaften Handwerksbetrieben - eine manufakturielle Welt. Und diese Welt, die ja auch landschaftlich prägt, ist verschwunden. Auch gewisse Gerüche, Stimmen und Bilder sind weg. Deshalb habe ich mich nach langen Gesprächen entschieden, das "Land" zu lassen.Ihre Skizzen sowie die Grafik des Dresdner Stadtplanes erinnern an "Alice im Wunderland". Haben Sie die DDR als eine Art "Wunderland" erlebt, einen Ort, wo Böses und Gutes, Licht und Schatten eng beieinander lagen?Für mich war das eher ein finsteres oder böses Märchen. Licht gab es natürlich auch, das muss man der Fairness halber sagen. Ich kriege viele Briefe zurzeit von Menschen, die mit der Sicht des "Turms" auf das Land nicht einverstanden sind und mir schreiben, dass es ganz anders, viel schöner mit der Nestwärme damals war. Aber der Preis für dieses "kleine Glück" bestand im Wegsehen, im Nicht-wissen-wollen. Das war erkauft. "Alice im Wunderland" habe ich noch nie gelesen. Für mich war als Pate E.T.A. Hoffmann interessanter, übrigens auch eine Vorbildfigur im Buch für den Alten vom Berge, der ganz bewusst einige Züge des Schriftstellers Franz Fühmann trägt. Es war mir ein Anliegen, ihm ein kleines Denkmal zu setzen, weil die ganze hoffmanneske Metaphorik durch Fühmann sehr stark in die DDR hineingetragen worden ist. Damit meine ich den Alltag, der das Gespenstische aus sich heraus erzeugte. So habe ich die DDR erfahren: Als ein hoffmanneskes Märchen.Wo standen Sie selber im Verhältnis zwischen der kunst- und -literatursinnigen Dresdner Nischenwelt und den Auswüchsen des späten real existierenden Sozialismus?Das war ein janusköpfiges Verhältnis. Meine Herkunft liegt in diesem Turm-Viertel. Gleichzeitig aber war man durch Alltag und Beruf und dann bei mir auch Armee zwangsläufig integriert und so eben auch angepasst. Das führt in die bitteren Seiten oder in die Schattenseiten des Buchs hinein, die ich ja nicht unterschlagen habe. Wer sich einfach nur still verhält in seiner Nische, hat damit im Grunde auch das System stückweise gestützt.Ich hatte damals mit dem Staat DDR nicht viel am Hut. Inzwischen sind mir durch Begegnungen, sicher auch durch manche Konfrontation, die Antriebe von vielen, das System zu unterstützen und mitzumachen, vor allem in den Anfangsjahren der DDR, einleuchtender. Ich versuche zumindest, da der Herkunft zu entkommen und mich soweit wie möglich auf die sogenannte andere Seite zu begeben, zuzuhören und Verständnis zu entwickeln.Man braucht viel Vorstellungsvermögen, um die verspielte, verschachtelte und ausgebreitete Sprache Ihres Buches in ein gedankliches Bild zu übertragen. Ist das die Sprache, die in der "Nische" in Dresden gesprochen wurde?In den Dialogen schon, da ist auch viel Dresdnerisches drin. Es gibt ja Dresden und das Dresdnerische. Dresden kann man auch im Exil oder im Ausland haben. Aber das Dresdnerische, das muss man mit der Muttermilch einatmen. Das sind ganz spezifische Formen von Witz, wie es den Berliner Witz gibt. Und die Sprache sucht man sich bis zu einem gewissen Grade nicht aus, sondern die Sprache hat einen. Ich musste mir natürlich Gedanken darüber machen, ob die Sprache im "Turm" adäquat ist. Es gibt im "Turm" ja verschiedene Sprachen. Die Armeesprache beispielsweise ist sehr technisch, sehr fachbegrifflich und in den Passagen, die über die Armee berichten, relativ nüchtern. Dort wäre mir eine reiche Sprache unangemessen erschienen. Der Reichtum der Sprache sonst hat wahrscheinlich auch mit dem Mangel zu tun. Denn die schönsten Farben blühen dort, wo es am grausten ist.Wie haben Sie sich - abgesehen von Ihren persönlichen Erinnerungen - diese alte, untergegangene Welt des "Turms" wieder vergegenwärtigt? Haben Sie vor Ort recherchiert und Gespräche geführt, zum Beispiel über das alte Antiquariat aus dem 11. Kapitel, das es ja wirklich gegeben hat?Gerade das Antiquariat kenne ich noch sehr gut, auch den Inhaber. Das war ein Dresdner Original, stadtbekannt. Den kannte jeder, der sich für Bücher interessierte. Es gab noch einen anderen Antiquar, der etwas älter war, aber Dienemann oder besser gesagt Leukroth, dessen Originalnamen ich belassen habe, war ein lokaler König. Andere Recherchen waren viel schwieriger, wobei ich das Glück hatte, dass dieser Stoff noch vorhanden ist. Er ist noch nicht so tief abgesunken, dass das unmöglich wird. Und ich hatte das Glück, als ich alte Zeitungen durchblätterte, zu wissen, wie man sie liest. Was erfährt man denn aus alten Zeitungen, wenn man recherchiert? Es sind ja Oberflächen, wo Lüge sehr oft mit implantiert war. Ich kann aber dann aus den Lokalseiten, aus den Nachrichten, die hinten stehen auf Seite vier oder fünf, vieles entnehmen, was in der Realität vorhanden war. Ein Beispiel: Wenn zu lesen war "Hausfrauen aufgepasst - Stoffe und Schnittmuster vorrätig im Zentrum-Warenhaus," dann kann man sich ja überlegen, was das bedeutet. Also wenn das nötig ist, darauf hinzuweisen bzw. die Schnittmuster mitzuliefern und abzudrucken, dann weiß man, dass es wieder mal selbst gemacht werden sollte. Das sind so Dinge, die vielleicht ein Glück gewesen sind für mich. Man stammt aus dieser Welt, ist weit genug weg, um im Bild zu sein, aber nah genug dran, dass es noch vibriert.Sie haben schon von einer "Fortschreibung" des Romans gesprochen. Ist es vorstellbar, dass es einen der Protagonisten, zum Beispiel den Christian, nach Berlin verschlägt?Nach Berlin - das ist tatsächlich geplant, aber wahrscheinlich nicht mit dem Christian, sondern mit einer anderen Figur, die im "Turm" nur in einer Nebenstelle vorkommt und die eigentlich aus einem anderen Projekt ist. Also Berlin wird vorkommen, sehr wahrscheinlich. Aber das ist Zukunftsmusik. Das muss sich zeigen.Das Gespräch führte Martin Jehle.------------------------------"Für mich ist auch das Land versunken. Diese alte Landschaft von damals gibt es nicht mehr."------------------------------Foto: Für "Der Turm" bekam Uwe Tellkamp 2008 den Deutschen Buchpreis.