Völkermord in Ruanda: Das Land der Verwundeten
KIGALI - Edouard Bamporikis Stimme wird unsicher und leise, wenn er über den Tag spricht, der sein Leben verändern sollte. Er war elf, als er wegen einer Malaria-Attacke im Krankenhaus lag und ein junger Mann mit einem Kind auf dem Arm in die Station gerannt kam, um vor den Mitgliedern der Hutu-Miliz Interahamwe Schutz zu suchen. Pascal, wie der knapp 30-jährige Mann hieß, verkroch sich mit seinem Kind unter Edouards Bett, und wenig später tauchten die Milizionäre auf. „Wo ist der Kerl?“, riefen sie. Aus Angst fing Pascals dreijähriger Sohn zu weinen an, woraufhin die Häscher die beiden Versteckten unter dem Bett hervorzogen. Erst hieben sie dem Vater mit mehreren Macheten-Schlägen den Kopf ab. Dann schlugen sie das Kind mit einem mit Nägeln beschlagenen Holzknüppel tot. „Krack“, imitiert Edouard das Geräusch, mit dem der Schädel des Dreijährigen barst.
Das ist jetzt zwanzig Jahre her, dieser Tag, der in die Anfangszeit des ruandischen Völkermordes fiel, eines der blutigsten Kapitel der ohnehin schon recht blutigen Weltgeschichte. Innerhalb von hundert Tagen brachten von radikalen Einpeitschern aufgewiegelte Hutu mehr als 800 000 Menschen, vor allem Tutsi, um. Die meisten von ihnen wurden mit archaischen Waffen wie Macheten, Messern, Speeren oder Holzknüppeln getötet.
Ein Leichenfeld
Meist kannten die Killer ihre Opfer beim Namen. Farmer schlugen ihre Nachbarn, Lehrer ihre Schüler, Männer ihre Schwiegerväter tot. Die blutberauschten Hutu waren dermaßen mit dem Morden beschäftigt, dass sie sich nicht auch noch um die aus dem Nachbarstaat Uganda ins Land eilenden Tutsi-Rebellen kümmern konnten. Diese marschierten durch den zentralafrikanischen Kleinstaat und trieben die Völkermörder mitsamt ihren Familien zur Flucht in den Nachbarstaat Kongo. Rund zwei Millionen Hutu flohen aus dem Land, nachdem sie zuvor fast eine Million Menschen getötet hatten. Im Juli 1994 glich Ruanda einem nur noch spärlich bevölkerten Leichenfeld.
„Sei still“, sagte Edouards Mutter später, als er von ihr wissen wollte, warum der Mann unter seinem Bett mitsamt dem Knaben sterben musste. Hutu, die nicht wie Edouards ebenfalls mordender Onkel geflohen waren, hielten sich bedeckt: Schließlich mussten sie die Rache der siegreichen Tutsi-Rebellen fürchten. Tatsächlich kam es in den ersten Jahren nach dem Völkermord zu einzelnen Revanche-Massakern, aber auch zu Attacken der in den Kongo geflohenen Hutu-Milizionären. Nur allmählich beruhigte sich das Land.
Kigali, im Jahr zwanzig nach dem Inferno. Die über zahlreiche Hügel verteilte Hauptstadt ist in Afrika ohne Beispiel, immer neue gläserne Bürokomplexe werden aus dem blutgetränkten Boden hochgezogen. Jeden letzten Sonnabend im Monat macht die Bevölkerung auf Geheiß ihrer strengen Regierung das Land sauber, die Straßen sind – auch wegen des strikt kontrollierten Verbots von Plastiktüten – so ordentlich wie sonst kaum irgendwo in Afrika. Es scheint so, als wollte man mit dem Müll auch die Spuren der Vergangenheit beseitigen.
Der einstige Trümmerstaat kann schon seit Jahren auf Wachstumsraten von sechs Prozent und mehr verweisen. Ruandas autokratischer Präsident, Paul Kagame, hat die Bevölkerung des einstigen Agrarstaates auf eine Zukunft als Afrikas Singapur eingeschworen.
Und die Menschen, die wollen den Erfolg, das gute, neue Leben. Edouard Bamporiki zum Beispiel steigt morgens um sieben in seinen glitzenden Geländewagen und fährt zu seinem Arbeitsplatz, dem Parlament. Der 31-jährige Poet und Filmemacher ist seit mehreren Monaten Abgeordneter der Ruandischen Patriotischen Front – der einstigen Befreiungsbewegung der Tutsi-Minderheit. „Für uns“, sagt Bamporiki, „gibt es inzwischen keine Hutu oder Tutsi mehr.“
Einst hatte der junge Poet zum Broterwerb anlässlich der jährlich wiederkehrenden Gedenkveranstaltungen zum Genozid Gedichte vorgetragen: Politisch korrekte Verse, die für die Ohren der Opfer bestimmt waren – die Täter blieben den Veranstaltungen, zumindest innerlich, fern. Als Bamporiki wieder einmal eines seiner Gedichte nach einem besonders bewegenden Erlebnisbericht eines Überlebenden vortragen sollte, brachte er die Strophen nicht über die Lippen: „Ich hielt sie plötzlich für völlig unangebracht.“ Stattdessen sagte der damals 24-jährige Hutu etwas, was zuvor noch kein Repräsentant seiner Volksgruppe gesagt hatte: „Es tut mir Leid“, sagte Bamporiki: „Was damals im Namen von uns Hutu angerichtet wurde, ist scheußlich und eigentlich unentschuldbar.“
Der Poet fühlte sich nach seinem Schuldbekenntnis „wie befreit“ – doch die meisten seiner Landsleute vom Volk der Hutu (die exakt dieselbe Sprache wie die Tutsi sprechen und auch von ihrer Kultur und Religion nicht zu unterscheiden sind) empfanden anders. Viele bezichtigten ihn, ein Verräter zu sein. Auch sein Onkel, der wegen Mordes während des Genozids mehrere Jahre lang hinter Gittern saß, wollte von der Entschuldigung seines Neffen nichts wissen. Noch heute wird dem Parlamentarier vorgeworfen, bei seinem Bekenntnis weniger an die Opfer als an sich selbst gedacht zu haben. „Er wollte sich eine Karriere als Politiker sichern“, meint zum Beispiel ein älterer Hauptstadtbewohner.
Bamporiki ist solche Anschuldigungen gewohnt: „Es ist der alte Hass, der aus solchen Vorwürfen spricht.“
Der Poet beließ es nicht beim Bekenntnis seiner Scham. Bamporiki drehte einen Film, der seine Einsicht weiter verbreiten sollte: In dem mehr durch seine Botschaft als durch cinematografische Brillanz glänzenden Streifen verliebt sich der Sohn eines Hutu-Übeltäters in die einzige Überlebende einer Tutsi-Familie, um von seiner Familie daraufhin ausgestoßen zu werden. Den Film führte Bamporiki in Dörfern und in Gefängnissen vor Killern vor. Nach den Vorführungen seien immer wieder Häftlinge zu ihm gekommen, um erstmals in ihrem Leben ihr Bedauern über ihre mörderischen Taten auszudrücken. Auch ihm habe der Film die Augen geöffnet, sagt Bamporiki-Freund Irene Mizero, dessen Eltern noch immer hinter Gittern sitzen: „Endlich konnte ich die Isolation aufbrechen, in die ich mich in meiner Scham geflüchtet hatte.“
Bamporikis Film „Langer Mantel“ wurde auch in Gahembe gezeigt, einem rund 60 Kilometer südöstlich von Kigali gelegenem Dorf, in dessen Nachbarschaft sich sowohl das Gefängnis von Rilima wie die Kirche von Nyamata befindet – auf ihrem Grund wurden am 13. April 1994 mehr als zehntausend Menschen abgeschlachtet. Nach zwanzig Jahren Unruhen, Gerichtsverfahren und Misstrauen sei nun endlich die Zeit gekommen, in der Opfer und Täter aufeinander zugehen könnten, sagt Theophile Sewimfura, der in Gahembe sozialtherapeutische Programme leitet. Inzwischen habe sich Ruandas politische Lage soweit beruhigt, dass sich die Dorfbewohner auch ihren Traumata stellen könnten. Getreu dem ruandischen Sprichwort: „Solange man rennt, spürt man noch keine Müdigkeit.“
Vier Männer sitzen hier in Gahembe auf einer Bank unter einem Akazienbaum, unter dem in den vergangenen Monaten auch die sozialtherapeutischen Sitzungen stattfanden. Ein Kreis von zwölf Personen war das, in dem Täter ihre Schuld und Opfer ihren Schmerz ausdrücken konnten. „Ich habe die Kinder meines Nachbarn und dann die Schwiegermutter dieses Mannes umgebracht“, eröffnet Elias Munyantore die Runde und zeigt auf Celestin Sefigi, der neben ihm sitzt. Der starrt nur still vor sich hin. Sefigis gesamte Familie wurde während des 100-tägigen Mordens umgebracht. Seine Frau, vier Kinder und neun weitere Verwandte, die mit auf dem Hof des Farmers lebten. Der damals 37-Jährige entkam dem Morden, weil er sich in den nahegelegenen Sümpfen versteckte und dann ins Nachbarland Burundi floh, später schloss er sich der Tutsi- Rebellenbewegung RPF an.
Drei Jahre nach dem Genozid kehrte Sefigi in die Heimat zurück. Er war voller Hass und wollte von Versöhnung nichts wissen. Hätte sich Munyantore, der Mörder seiner Familie, damals nicht vor ihm versteckt, er hätte ihn womöglich umgebracht. Sefigi wurde wenig später zum Präsidenten des örtlichen Gaçaça-Gerichts berufen, ein traditionelles Tribunal, das mit einem riesigen Rückstau an Gerichtsverfahren fertig werden sollte.
Während des Völkermordes waren die Richter des Landes entweder getötet oder geflohen, nur zehn waren noch übrig. Experten rechneten aus, dass die juristische Aufarbeitung der Gräueltaten mehrere Hundert Jahre dauern würde. Deshalb wurde auf die Tradition herkömmlicher Dorf-Tribunale mit Laien-Juroren und der Beteiligung der gesamten Gemeinschaft zurückgegriffen. Die Gaçaça-Verfahren seien notwendig aber gewiss nicht fehlerlos gewesen, räumt Sefigi ein. Manche Überlebende hätten womöglich alte Rechnungen beglichen, während Täter vielleicht zu leicht bestraft oder gar ungeschoren davongekommen seien.
Im Verlauf der über 200 Prozesse in Gahembe seien viele Haftstrafen und auch die ersten eher erzwungenen Entschuldigungen ausgesprochen worden, erzählt der Gaçaça-Präsident. Auch Munyantore, der Täter, wurde zu acht Jahren Haft verurteilt.
Sefigi, das Opfer, brauchte lange, bis er bereit war, sich im vergangenen Jahr einer sozialtherapeutischen Gruppe anzuschließen. Der Kreis traf sich unter dem Vorsitz eines Moderators ein Mal die Woche, um unter dem Akazienbaum ins Gespräch zu kommen. Als Ziel der Sitzungen sieht der Soziologe Sewimfura, dass Täter wie Opfer die in ihren Köpfen enthaltene „Black Box“ öffnen könnten. Dafür sei gegenseitiges Vertrauen, Respekt, Fürsorge und die Vereinbarung neuer Regeln nötig. Das ist ein Prozess, der möglicherweise ein ganzes Leben dauert.
Erster Belastungstest
Sefigis Gruppe hat jetzt bereits das dreimonatige Programm absolviert – trotzdem wollen sich die zwölf Teilnehmer weiter treffen, um im Gespräch zu bleiben und sich gegenseitig helfen zu können. Zu diesem Zweck wurde ein Notfonds geschaffen, der aus einer Kuh und mehrerer Ziegen besteht. Wenn der Fonds nicht in Anspruch genommen werden muss, soll ein Fest gefeiert werden.
Einen ersten Belastungstest hat die Gruppe bereits bestanden: Als der Überlebende Jean-Baptiste Karigenzi bei der Beschreibung seines Leidenswegs noch zwanzig Jahre später in Tränen ausbricht und sich verschämt hinter den Akazienbaum zurückzieht, folgt ihm nach kurzem Zögern Théogene Rwagasore, der Mörder von Karigenzis Schwester. „Wir gehören zusammen“, hat er Jean-Baptiste getröstet. „Wir werden den Weg gemeinsam gehen.“
Wenn am 7. April die Gedenkveranstaltungen zum 20. Jahrestag des Völkermordes beginnen, wird das für viele Opfer wieder großen Schmerz bedeuten, sagt der Poet und Parlamentarier Edouard Bamporiki. In seinem Wahlkreis werden mehr als 2 000 Helfer unterwegs sein, um den Traumatisierten zu helfen.
Im Rahmen der Gedenktage sollen auch die Knochen von 69 namenlosen Opfern beerdigt werden, die allein in diesem Jahr in Bamporikis Bezirk gefunden wurden. Immer, wenn zum Beispiel eine neue Straße gebaut wird, werden Knochen in der Erde gefunden. Das Grauen bleibt gegenwärtig, so gründlich man später auch die fertigen Straßen putzt.
„Wir sind noch immer ein verwundetes Land“, sagt Edouard Bamporiki. „Aber wir sind eindeutig auf dem Weg der Genesung.“