Vom Verleger und Lektor zum Schriftsteller: der Berliner Debütautor Mathias Gatza: Mit einer Dauerkarte für den Zoo
Kennengelernt habe ich ihn als sehr jungen Mann in Klagenfurt, als gerade der Ingeborg Bachmann Wettbewerb stattfand, zu dem der deutsche Literaturbetrieb Jahr für Jahr an den Wörthersee pilgert. Wenige Kilometer entfernt fielen in diesem Juni 1991 die ersten Schüsse des Jugoslawienkriegs. Doch das kümmerte Mathias Gatza nicht, denn, während wir vor einem Gasthof beim Wein saßen, erzählte und erzählte er, besessen von seinem Projekt. Kurz zuvor hatte er einen literarischen Verlag gegründet, und ihm in bester Fischer - und Suhrkamp Tradition seinen Namen gegeben. Gatza-Verlag.Auf der letzten Frankfurter Buchmesse saß er wieder vor mir, in einer Koje des Rowohlt-Verlags, immer noch mit dem Anschein eines jungen smarten Mannes, und erzählte erneut voller Elan, von seinem ersten Roman "Der Schatten der Tiere". Als ich ihn am Ende des Gesprächs fragte, welchen Beruf er heute angeben würde, zögerte Mathias Gatza einen koketten Moment: "Schriftsteller."Vor siebzehn Jahren Verleger geworden, nun also Schriftsteller. Dazwischen Erfolge, Niederlagen, tiefe Krisen, dramatische Abstürze und jetzt ein Neuanfang mit einem Roman, in den man nicht zu viel Autobiografisches hineingeheimnissen sollte. Und doch ist in "Schatten der Tiere" der Anteil des eigenen Lebens im namenlosen Icherzähler nicht zu übersehen, vom Autor gewollt. Wer ihn nicht kennt, wird es nur erahnen.Das Handwerk beherrschen"Vor wenigen Tagen haben sie Braun gefunden", lautet der erste Satz des Romans. "Ich habe augenblicklich gewusst, dass es sich um Braun handelt" der zweite. Ein klassischer Beginn. Einer ist tot, der andere hat ihn gekannt und wird dessen und die eigene Geschichte erzählen. "Sein Gesicht ist nicht mehr zu erkennen gewesen, der blanke Hass habe gegen ihn gewütet", der dritte Satz. Eine gelungenere Eröffnung ist kaum möglich, das Spiel kann beginnen. Sie verrät das geschulte Handwerk des ehemaligen Verlegers und Lektors. Klar umrissen führt sie ins Offene hinein. Ein Sog entsteht.Brauns Frau Helene, eine karge Schönheit, sucht das "Ich" auf, den einzigen Freund ihres Manns, der sie vor langem verlassen hatte. Sie will etwas wissen über Brauns Leben und Tod. Getroffen haben sich die beiden Männer im Berliner Zoo, in dem das "Ich" nach einer Entziehungskur seine Tage verbringt und über das Leben der Tiere, die ihm zum Spiegel werden und lieber als die Menschen geworden sind, meditiert.Aber hat es Braun wirklich gegeben? Oder ist er nur eine Projektion des Icherzählers? Eine Erfindung des Autors ohnehin! Der Icherzähler verliebt sich vage in Helene. Verfällt er ihr gar, weil sie Brauns Frau ist? Er folgt ihr nach Amsterdam, wird auf der Fahrt dorthin verfolgt. Von wem? Und warum? Weiß er was, was andere wissen wollen? Über Braun, den Mathematiker, der einen gewissen Neutrinotank erfunden und für ein Staudammprojekt in Bolivien Berechnungen gemacht hat, die auch für andere von Interesse sind? Der Roman wirft mehr Fragen auf, als er Antworten preisgibt, was seinen enormen Reiz ausmacht.Schließlich reisen Helene und er in den äußersten Zipfel Norwegens, wo Braun gelebt hat, wo er ihn zuvor schon mal besucht hat, woraufhin der umgekommen ist. Er nimmt seine Spur wieder auf, zusammen mit dessen Frau, die sich ihm nähert, die sich von ihm entfernt in einem Wechselspiel von Liebe und Verachtung.Braun. Um ihn kreist unablässig das Ich, jedes Denken verknüpft sich mit ihm, will so die Welt verstehen, doch Braun ist und bleibt nur eine Erinnerungslücke, existiert nur als "ein genereller Terminus". Die Berliner Tochter des Icherzählers hat dem Vater altklug geraten, er solle Braun in Anführungszeichen setzen. Ist Braun ein anderer? Ist er das Doppel des Ichs? Gewinnt dieses Identität nur durch den anderen? Und hat er ihn sodann umgebracht? Um an seine Stelle zu treten?Dieser Debütroman bietet vieles auf 394 Seiten: Die Geschichte eines Alkoholikers, der nach einem radikalen Absturz trockengelegt ist und immer auf der Suche nach der Nicorette ist. Die eines Zoodauerkarten- besitzers, der über Tier und Mensch sinniert, ein Buch mit dem Titel "Schatten der Tiere" aber nicht hat zu Ende bringen können. Eine Kriminalstory über Verfolger und einen Verfolgten, über einen Mord, den ein jeder begehen könnte. Ein Buch über Literatur und Mathematik und ihre Freiheit: "Eine Freiheit, die ich in der Literatur nicht finde; Früher war ich davon überzeugt, dass die Literatur irgendeine Bedeutung besäße, doch worin bestünde sie?"Und nicht zuletzt ist es ein Roman über einen gescheiterten Verleger, der dem Alkohol verfallen war. Das neue "Ich" macht sich lustig über den ehemaligen Verleger, verhöhnt gar einen von einem "Kleinverleger zusammengesampelten Literarischen Hotelführer", ein schönes Buch im übrigen, erschienen 1994 im Gatza Verlag.Nachdem Mathias Gatza 1991 seinen Verlag gegründet hatte, war dieser für einige Jahre Hort anspruchsvoller Belletristik. Er entdeckte Autoren, die bis heute einen Namen haben, doch schließlich ging der Verlag in Konkurs, kroch kurzzeitig unter als Gatza bei Eichborn. Der Verleger heuerte als Lektor beim Berlin Verlag an, geriet aber in Streit mit dessen Verleger. Nach einer kurzen Station bei Suhrkamp folgte der bittere Abschied.Enttäuschung führt bisweilen die Feder des Neuautors Gatza. "Bin ich verbittert", fragt sich das "Ich". "Nein, denn es ist kein Geschmack mehr geblieben von meinem früheren Leben, es war eine zu dünne Brühe." Doch der Neuautor kann nicht anders, gerät zu häufig ins verbitterte Raisonieren, über alles und nichts und auch über den Literaturbetrieb. Und in diesem Raisonieren liegt die einzige ärgerliche Schwäche des Buchs, denn sobald Gatza erzählt und schildert was er sieht, was seine Figuren erleben, ist der Roman spannend wie ein Kriminalroman, anrührend wie ein Liebesroman.Vollkommenheit der MathematikDer gebürtige (West)-Berliner Gatza, der die Stadt nie länger verlassen hat, ist nicht nur nach Norwegen gereist, um die nordische Landschaft beschreiben zu können, er hat sich wie sein Icherzähler eine Jahreskarte für den Berliner Zoo gekauft und hat sich zwei Jahre lang der Mathematik gewidmet, um seiner literarischen Erfindung des Braun ebenbürtig zu sein. Daraus resultieren Erkenntnisse wie: "Landschaft ist umwerfend, das Leben eine Enttäuschung" oder: "Ein Tier muss alles richtig machen, ein Mensch hingegen steht unter dem Fluch, dass er nichts richtig machen kann" und: "Alles was vollkommen ist, spricht die Sprache der Mathematik". Ein kluges Buch, das aber nie Gefahr läuft, langweilig und zäh zu sein. Seit Langem hat mich kein Roman mehr so gefesselt, wie "Der Schatten der Tiere".------------------------------Foto: Mathias Gatza. Das Leben ist ein Roman.------------------------------Foto: Nach einer Entziehungskur meditiert der Erzähler im Zoo über das Leben der Tiere, die ihm zum Spiegel werden.------------------------------Foto: Mathias Gatza: Der Schatten der Tiere. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2008. 384 S., 19,90 Euro.