von Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher: Die Placebo-Kultur
Als die Visionäre der Aufklärung vor 200 Jahren den Menschen von morgen imaginierten, gingen sie von einem rationalen Wesen aus, das die Unmündigkeit überwinden könnte. Die magischen Glaubenssysteme des Mittelalters mit ihrem Hang zum Rädern und Foltern sollten einem "lichten Geist", einem kritischen Bewusstsein weichen. "Zweifle an allem wenigstens einmal, und wäre es auch der Satz zwei mal zwei ist vier", beschrieb Lichtenberg dieses Pathos der rationalen Vernunft.Nach zwei Jahrhunderten sollten wir diese Vision aufgeben - wenn wir ehrlich sind. Menschen lieben nicht nur Mythen, sie brauchen sie bitter zum Leben. Die dieswöchige Titelstory des Nachrichtenmagazins Spiegel über die Wirkungslosigkeit der Homöopathie brachte Tausende von Blog-Einträgen und unglaubliches flaming auf allen Kanälen.Dabei bewahrheitet sich, was die Philosophen der Postmoderne schon seit geraumer Zeit formulierten: Wir leben in einer Ära, die sich nicht mehr auf eine gemeinsame Weltbetrachtung einigen kann. Ein fröhlicher, fraktaler Kollektiv-Subjektivismus hat längst die Macht übernommen, nach der Devise: "Wenn WIR dran glauben, ist es wahr!" Dazu gehören die klassischen Verschwörungstheorien gegenüber der "Wissenschafts-Lobby" und der "Pharma-Mafia".Die Kognitionspsychologie kann uns all das durchaus erklären: Der menschliche Geist sucht unentwegt nach Sinn und Kohärenz, und vor allem nach Wirksamkeit. Wenn das Baby immer wieder unerklärliches Fieber hat, die Freundin unter schwerem Asthma leidet, der Partner Krebs bekommt, dann stehen die Neuronen unseres Hirns unter schwerem Stress. Sie suchen verzweifelt nach Mustern, die die negative Situation beenden könnten. Das Einnehmen von "Globuli", das Engagieren von Geistheilern, der Glaube an eine Wundermethode X wirkt in diesem Moment in der Tat "heilend" auf das Kommunikationssystem zwischen Mensch und Umwelt. Das nennt man den Placebo-Effekt, aber es ist viel mehr als "Scheinwirksamkeit". Menschen brauchen, als schwache, sterbliche Wesen, Rituale, Selbst-Vergewisserungen, die ihre Ohnmacht kompensieren. So funktioniert Religion. So funktioniert Fußball. So funktionieren leider aber auch Faschismus, Ideologie und Populismus.Die moderne Zivilisation hat - und dafür sollten wir dankbar sein - einen Hang zum Harmlosen, zur Entschärfung, zum Placebo eben, entwickelt. Die Homöopathie lässt sich wahrscheinlich auf ihr eigenes Feld zurückdrängen, irgendwo zwischen Harry Potter und Bio-Milieu. Statt Kriegen führen wir heute lieber Fußballkämpfe - eine erhebliche Zivilisationsarbeit (wenn man von den derben Fouls der Holländer absieht).Aber wehe, wenn das magische Element wieder zum Ernstfall drängt. Die eigentliche Gefahr für die Zukunft besteht nicht in der globalen Erwärmung, im Artensterben, Turbokapitalismus oder in einer weltweiten Killerseuche. Die wirkliche Zukunftsgefahr besteht in einer mentalen Epidemie der Irrationalität. Diese Gefahr wurzelt darin, dass unser kollektiver Geist nicht immer stark genug ist für differenzierte Wahrheiten. Hoffen wir inständig, dass niemals wieder irgendein Aberglaube aus dem Ruder läuft - einer, der so blöd ist, dass man es im Nachhinein kaum fassen kann.