Vor drei Monaten starben 310 Yeziden im Nordirak bei gewaltigen Anschlägen. Den Überlebenden hilft niemand: Unkurdisch, unislamisch, zwischen den Fronten
TIL EZER. Der Zeitpunkt der Explosionen war in teuflischer Absicht gewählt. Gegen 19.30 Uhr rollten die ersten beiden mit hoch explosivem Sprengstoff gefüllten Tanklastwagen auf den Wüstenort Til Ezer zu. Die Sonne war an jenem 14. August gerade untergegangen, die lähmende Hitze des Tages hatte sich gelegt. Emsige Geschäftigkeit hatte das Zentrum von Til Ezer mit dem Marktplatz und seinen vielen kleinen Läden belebt als die tödliche Fracht eintraf. In einem Radius von fünfhundert Metern vernichtete die Explosion das gesamte Zentrum des Ortes und hinterließ eine zunächst unüberschaubare Zahl von Toten und Verletzten. Heute sieht es dort aus wie nach einem schweren Erdbeben, obwohl die US-Armee die gröbsten Trümmer beiseite geräumt hat.Nur zwei Minuten und vierzig Sekunden später zündete der zweite Selbstmord-Attentäter seine Ladung und zerstörte sämtliche 520 Häuser des nördlichen Ortsteiles. Die Reste der Lehmhütten unterscheiden sich farblich kaum von der steinigen Wüste, man erkennt erst im letzten Moment, dass hier einmal menschliche Behausungen gestanden haben.Zarathustras ErbenDie gewaltigen Explosionen schreckten die Bewohner des nur sechs Kilometer entfernten Nachbarortes Siba Sheik Khidir auf. Telefonisch waren sie informiert worden, dass in Til Ezer mindestens ein Tanklastwagen explodiert war. Die wenigen bewaffneten Männer rannten sofort in Richtung des Nachbarortes. Im letzten Licht der Dämmerung sahen sie zwei unbeleuchtete Tankwagen auf ihr Dorf zukommen. Sie eröffneten sofort das Feuer auf die beiden Fahrzeuge, und es gelang ihnen, den Fahrer des einen Tankzuges etwa achthundert Meter vor dem Ort zu töten. Der zweite schaffte es dagegen, seine Ladung sofort nach Erreichen des Dorfrandes zu zünden. Seit der zweiten Explosion in Til Ezer waren nur knapp fünf Minuten vergangen.In beiden Orten zusammen hatte es am Abend des 14. August 310 Tote und 711 Verletzte gegeben. Mehr als 800 Häuser waren völlig zerstört oder stark beschädigt worden. Damit waren die Anschläge von Til Ezer und Siba Sheik Khidir die schwersten Autobomben-Attentate im Nachkriegs-Irak überhaupt. In der täglichen Horror-Statistik jener Tage aus Bagdad gingen weitere Besonderheiten der Anschläge von Til Ezer und Siba Sheik beinahe unter: Die Attentate fanden nicht in größeren Städten statt, sondern auf dem Land. Und sie erschütterten ein Gebiet im Nordwesten des Irak, das bis dahin von größeren Terrorakten verschont geblieben war. Was also war der Grund für die Wahl der Gegend und den Zeitpunkt der Anschläge?Der Sindschar-Distrikt in der nord-westlichen Provinz Ninive, in dem die beiden angegriffenen Orte liegen, ist das Hauptsiedlungsgebiet der kurdischen Yeziden. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Kurden sind die Yeziden keine Muslime, sondern repräsentieren die kurdische Ur-Religion, die stark von den Lehren des alt-iranischen Propheten Zarathustra beeinflusst ist. Sie kennen kein heiliges Buch - wie Juden, Christen und Muslime - sondern geben ihren Glauben ausschließlich durch mündliche Überlieferung weiter. Während sie sich mit den wenigen Christen im Nord-Irak gut verstehen, existiert zwischen Yeziden und Muslimen eine tiefe gegenseitige Feindschaft. Das erschwert ihre Situation doppelt: Als Kurden gegenüber den Arabern und als kurdische Yeziden gegenüber den kurdischen Muslimen. Gleichwohl grenzen sie sich auch äußerlich gegen die Muslime ab. So sind yezidische Frauen und Mädchen unverschleiert, und der Genuss von Alkohol ist in der yezidischen Religion ausdrücklich erlaubt.In Til Ezer und Siba Sheik Khidir leben ausschließlich Yeziden, während ihr Anteil im gesamten Distrikt Sindschar 76 Prozent beträgt, bei 17 Prozent Arabern, sechs Prozent Türken und einem Prozent Christen.Obwohl die Regierung großzügige Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer Häuser versprochen habe, sei bisher kein einziger Dinar bei ihnen eingetroffen. "Wann holt Ihr uns hier raus aus diesem Elend?", fragt eine junge Frau. Ein älterer Mann zeigt auf einige ärmlich gekleidete Kinder und sagt: "Wir werden hier wie die Tiere behandelt!" "Nein, schlimmer.", ergänzt eine Frau in seiner Nähe. Der Dolmetscher kann längst nicht alle Bemerkungen übersetzen. Plötzlich taucht ein Kleinbus voller weiß gekleideter Männer auf, die fast alle eine Waffe tragen. Es handele sich um besonders angesehene "heilige" Männer, erläutert der Dolmetscher. Das martialische Äußere der Männer will nicht so richtig zu der Vorstellung von "heilig" passen. Aber ungefragt erklärt einer von ihnen: "Wir leben hier sehr gefährlich und müssen uns und unsere Familien schützen.". Tatsächlich hat es seit den Anschlägen im August mehrere Überfälle auf Einzelpersonen und kleine Gruppen von Yeziden gegeben.Der Bürgermeister der 65 000 Einwohner zählenden Distrikthauptstadt Sindschar, Dakhel Hassoun, selbst Yezide, nennt auf die Frage nach den Schuldigen des schwersten Sprengstoff-Attentates im Irak das Terror-Netzwerk El Kaida und den iranischen Geheimdienst. Das sei schon daraus zu schließen, dass der Anschlag sich eindeutig gegen die Yeziden gerichtet habe und dass 75 Prozent der Opfer Kinder seien.Im christlich-yezidischen Dorf Dayrabun, das auf dem Weg von der türkischen Grenze nach Sindschar liegt, dort, wo der Tigris für wenige Kilometer die Grenze zwischen Syrien und dem Irak bildet, hatten die Menschen noch von einem dritten Verdächtigen gesprochen - dem syrischen Geheimdienst. Die beiden betroffenen Orte liegen nicht allzu weit von der syrischen Grenze entfernt.Die Menschen in Til Ezer und Siba Sheik Khidir scheint die Frage nach den Verantwortlichen des Anschlags weniger zu interessieren. Sie machen sich große Sorgen angesichts des bevorstehenden Winters. In der gut eintausend Meter hoch gelegenen Wüstenebene wird es in den Winternächten empfindlich kalt. Die von der US-Armee für die Obdachlosen zur Verfügung gestellten Zelte bieten keinen ausreichenden Schutz gegen die Kälte. Schon jetzt, wo es wenigstens tagsüber noch richtig warm wird, ziehen es viele vor, zu ihren Familienangehörigen zu ziehen, die noch über intakte Häuser verfügen, statt in den zugigen Zelten zu schlafen. Andere versuchen wenigstens die Dächer ihrer Häuser notdürftig zu reparieren. Doch von mehr als fünfhundert Häusern stehen nicht einmal mehr die Grundmauern.Ein vager VerdachtBürgermeister Dakhel Hassoun beklagt ebenfalls die ausbleibende Hilfe der Regierung und nennt dafür politische Gründe. "Ein Referendum, das nach der irakischen Verfassung möglich ist, sollte klären, ob wir Sindschar-Yeziden, die wir ja alle Kurden sind, weiter zur arabischen Provinz Ninive oder zukünftig zu Kurdistan gehören sollen, wo es für uns viel sicherer wäre!" Immer wieder kommt er auf die Frage nach den Schuldigen des Anschlages vom 14. August zu sprechen, den er auch als Warnung vor einem "falschen" Abstimmungsverhalten der Yeziden in Sindschar bei einem möglichen Referendum versteht. Einige Tatverdächtige, so Dakhel Hassoun, seien verhaftet worden, ihre Vernehmung aber noch nicht abgeschlossen.Für den von außen kommenden Beobachter stellen sich vor allem drei Fragen, deren vollständige Beantwortung zu den Drahtziehern der Attentate führen könnte: Wer ist in der Lage, junge Männer so zu fanatisieren, dass sie ihr Leben opfern, um möglichst viele Zivilpersonen zu töten, darunter ganz bewusst auch zahlreiche Kinder?Wer verfügt über die militärische Logistik und stellt diese zur Verfügung, um vier Tanklastwagen mit insgesamt 25 bis 30 Tonnen Sprengstoff zu füllen? Wer sorgt dafür, dass diese ungehindert und offenbar unbemerkt durch die Wüste fahren und an ihr Ziel gelangen können?Nichts deutet derzeit darauf hin, dass der Massenmord aufgeklärt wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Sie bleiben verborgen unter dem Schutz von Chaos und Krieg.------------------------------Bedrohtes VolkZahl und Orte: Das Hauptsiedlungsgebiet der Yeziden (auch Jesiden) ist der Nordirak. Es gibt keine offizielle Zählung der Yeziden, ihre Zahl wird weltweit auf ca. 800 000 geschätzt. Den Hauptanteil stellen die irakischen Jesiden (160 000 bis 350 000). In Deutschland leben 35 000 bis 40 000 (viele davon in Celle).Verfolgung: Aus ihren alten Siedlungsgebieten wie der Türkei, in Syrien und dem Iran wurden die Yeziden verdrängt - einerseits weil sie Kurden sind, andererseits wegen ihrer nicht-islamischen Religion.------------------------------Karte: Irak (Schiitische Araber, Sunnitische Araber, Kurden)------------------------------Foto: Eine junge Yezidin inmitten der Trümmer ihres zerstörten Heimatortes Til Ezer. Ein Kopftuch schützt gegen wehenden Sand, das Gesicht ist frei.