Walter Mehring überlebte im Exil, doch Deutschland wurde ihm nie mehr Heimat - Zum hundertsten Geburtstag des Literaten aus Berlin: Er glaubte sich vergessen
"Hätten Sie gewußt, wie wir alle darauf gewartet haben; wie wir uns gesehnt haben, zu wissen: Was sagt Peter Panther dazu?" schreibt Walter Mehring in seinem Nachruf auf Tucholsky, der sich 1935 im schwedischen Exil das Leben genommen hatte. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung mußte Ossietzky verstummen, Karl Kraus verschlug es die Sprache, Tucholsky schwieg seit 1932. Die großen Pamphletisten gegen die braune Zivilisationsverwüstung schienen auf verlorenem Posten. Auch Walter Mehring. Als früher Warner vor der Blut-und-Boden-Bewegung stand er auf den schwarzen Listen der Nazis. Goebbels schrieb einen ganzseitigen Artikel gegen Mehring unter dem Titel "An den Galgen".Mehring, am 29. April 1896 geboren, hatte als Vierjähriger erlebt, wie sein Vater, Satire-Redakteur des "Berliner Tageblattes", wegen Majestätsbeleidigung verhaftet wurde. Eine Szene, die er später selbst traumatisch nennen sollte.Nach wilden Jahren im expressionistischen Milieu wurde Mehring im Berlin der zwanziger Jahre als Autor ein Star. Die Kabaretts rissen sich um seine Couplets, seine satirische Prosa bewunderten die Damen, seine Glossen in der "Weltbühne" und dem "Tage-Buch" waren Partygespräch. Der gebürtige Berliner glich seiner Stadt. Rasend im Tempo, expressiv im Jargon, wirbelnd im Temperament.Die Nazi-Journaille beschimpfte ihn als "jüdischen Asphaltliteraten". Mit der Bühnenpersiflage "Der Kaufmann von Berlin" provozierten Mehring und Piscator 1929 einen großen Theaterskandal. Die Inszenierung wurde zur Farce über den alltäglichen Antisemitismus der Inflationszeit. "Im Parkett lachten die Juden, und die Nazis warfen Stinkbomben", schrieb Hermann Kesten. Flucht nach Paris Mehring hatte in der Republik von Weimar frühzeitig die "Strohwitwe der Monarchie" gesehen. Nach dem Wahlerfolg der Nazis von 1930 schrieb er verstärkt gegen den "großen Trommler" Hitler an, auch als müsse er Tucholskys frühe Resignation mitauffangen. Unmittelbar vor dem Reichstagsbrand wurde Mehring gewarnt. Als er in Paris dem Nachtzug entstieg, las er von seiner eigenen Verhaftung in den Morgenzeitungen.In den "Medusenarmen des Exils" war das Kabarett als Forum für Mehring verloren, die Publikationsmöglichkeiten blieben beschränkt. Dennoch schrieb er in den Exiljahren bis zum Kriegsausbruch 170 journalistische Beiträge. In einer vorzüglichen Auswahl hat jetzt Georg Schirmers fünfzig dieser Texte jenseits aller bisherigen Mehring-Ausgaben herausgegeben. Der Titel "Das Mitternachtstagebuch" spielt auf Mehrings Zyklus von Exilgedichten "Briefe aus der Mitternacht" an.Von Brotarbeiten kann hier nicht gesprochen werden, gezahlt wurde ohnehin nur spärlich. Eine schlagende Glosse, ja, ein geglücktes Bonmot erhob darüber, kein "abgeurteilter Deserteur aus der Realität zu werden". Unabhängige Stimme Mehring blieb im europäischen Exil eine vernehmbare unabhängige Stimme. Aber die formalen Möglichkeiten hatten sich für Satiriker verändert. Kesten benennt die gestörte Balance: "Statt zu übertreiben, wie es ihrem Gewerbe zusteht, mußten sie untertreiben, um nicht jede sogar satirische Wahrscheinlichkeit zu zerstören. Arme deutsche Satiriker!"Als Autor begegnet Mehring diesem Problem sehr artifiziell. Die euphemistischen Reden, Nachrichten und diplomatische Noten "aus dem Reich", die er in Paris liest, entschlüsselt er: Die deutsche Aufrüstung führe zum Kriege, gerade weil das Wort Krieg so dummdreist durch Friedensgeschrei ersetzt werde. Die Appeasement-Politik entlarvt er in einem "Kleinen Führer durch kommende Verträge".Mehring schlägt des Führers "Mein Kampf" an beliebigen Stellen auf, und immer wird offenkundig, "Hitler beherrscht die Landessprache nicht". "Mein Kampf" und Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" lesen sich in ihrem Rassenwahn wie eine Fortschreibung des mittelalterlichen "Hexenhammers" mit seiner Aufforderung zur Menschenhatz. In der Satire "Karl der Große" führt Mehring die "germanische Abstammungslehre" auf ein Delirium im "Teutoburger Sumpffieber" zurück. In einer beißenden Persiflage entwirft er für Hitler ein "Schema der nächsten tausend Reden". Und im "Anschluß" Österreichs sieht er die Generalprobe für kommendes.Zwischen die Glossen schoben sich immer häufiger Nachrufe auf Freunde wie Tucholsky, Ossietzky, Horvath, Toller oder den Schauspieler Paul Graetz. Zudem wurde die Spaltung des Exils in der Beurteilung der Moskauer Prozesse bedrückender. Mehring schrieb im Exil vornehmlich für das "Neue Tage-Buch", das seit Juli 1933 in Paris vom emigrierten Leopold Schwarzschild herausgegeben wurde.In dieser Zeitschrift war Mehring neben Joseph Roth der prominenteste belletristische Beiträger. Als Schwarzschild die Moskauer Prozesse scharf kritisierte, wurde er von kommunistischer Seite mittels eines gefälschten Briefes als Spion Goebbels' verleumdet. Mehring mahnte die "Verantwortlichkeit der Geistigen" an: "Die Mittel können den Zweck entheiligen." Scharfzüngig griff er die Verharmlosung der Moskauer Prozesse durch Feuchtwanger an und verteidigte Andre Gides Kritik am stalinistischen Terror. Es kam zu Brüchen, Freunde versetzten einander Schläge. In der Folge dieses Streits blieb Mehring die "Neue Weltbühne" versperrt.Im Nachwort zum "Mitternachtstagebuch" spricht der Herausgeber von Mehrings Geschichtspessimismus, ohne näher auf des Dichters politische Erfahrungen einzugehen. Mehring konnte auf dem schwankenden Boden des Exils sich die Zeitläufe durch keine Utopie schönen. Er folgte unbeirrt seinem Credo: "Schriftsteller sein bedeutet: Anschauungen unbestechlich analysieren." Kesten hat Mehring eine "witzige Kassandra" genannt. Kassandra sieht die Gefahren früher als andere, aber der Warnruf verhallt ungehört. Für Mehring wurde dies zu einer Grunderfahrung.Die Pariser und Wiener Exilzeiten waren seine letzten produktiven Jahre. Auch der Roman "Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler" entstand in dieser Zeit. In den "zehn Hungerjahren" des amerikanischen Exils ist Mehring als streitbarer Aufklärer fast verstummt. Einige seiner Couplets singt man noch in der Nachkriegszeit, hat aber den Namen des Dichters vergessen. Kalte Rückkehr Als Mehring 1953 versucht, nach Deutschland zurückzukehren, bekommt er zwar gelegentlich ein Schulterklopfen. Als Klassiker wie Brecht oder Tucholsky wird er aber nicht gesehen. Seine Emigrationsliteratur paßt nicht so recht zu Wiederaufbau und Wiederaufrüstung. Und ein Kabarettdichter mag er nimmer sein. Zwar erscheint einiges unter wohlwollender Kritik, alsbald aber landet es im Ramsch. Seine Weggefährten hat er fast alle verloren; den wenigen, die wie Bloch aus der DDR rufen, winkt er ab.Mehring, der am 3. Oktober 1981 in Zürich starb, hat noch die Anfänge einer späten Werkausgabe, die seine dreißig verstreuten Bücher versammelte, erleben können. Gestorben ist er aber in dem Glauben, ein Vergessener zu sein. Walter Mehring: Das Mitternachtstagebuch. Texte des Exils 1933-1939. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Georg Schirmers. Persona Verlag, Mannheim 1996. 224 Seiten, 30 Mark. +++