Er fährt zur Hölle: Putins letzter Auftritt auf der Weltbühne
Der Krieg gegen die Ukraine ist Putins Ende. Die Höllenfahrt wird zunächst die repressiven Tendenzen in der Welt stärken. Bis die Jungen aufwachen, endlich.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine markiert den Beginn einer tektonischen Verschiebung der geopolitischen Realitäten. Die Verschiebung findet auf verschiedenen Ebenen statt: politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Es ist zu erwarten, dass die Lage zunächst schlechter werden wird: Im globalen Kriegszustand dominieren immer Repression und Unterdrückung - auch gegen die eigenen Völker.
Politisch könnte der Angriff auf die Ukraine als eine Art russische Panikattacke verstanden werden. Wenn Politiker, die gegenüber dem Westen immer auf die Bedeutung der internationalen Verpflichtungen hingewiesen haben wie etwa Außenminister Sergej Lawrow, der einen hypernervösen Zaren offenkundig nicht mehr von einem wahnwitzigen Plan abhalten kann, dann muss der Druck groß sein.
Der Druck kommt von innen: Putin weiß, dass seine Zeit abläuft. Die jungen unter den Oligarchen drängen nach. Eine Opposition gibt es zwar in Russland nicht mehr, wohl aber viele Opportunisten. Und sie alle haben Geld und Macht und können Putin zusetzen. Denn Freunde hat der einsame Präsident sicher keine. Der frühere KGB-Mann hat gelernt, dass Misstrauen die Grundlage für maximale Kontrolle ist. Misstrauen und Respekt vor Institutionen schließen einander allerdings aus. Daher kann Putin jetzt auch auf keine kritisch-loyale Struktur zurückgreifen. Die Ja-Sager und Hofschranzen lassen ihn, den alten bockigen Mann, ins Verderben laufen.
Der Druck kommt im Fall Russlands aber auch von außen, und hier von vielen Seiten: Die viel beschworene Nato-Osterweiterung ist zwar das Thema, das am meisten diskutiert wird. Aber sie ist nicht das größte Problem Russlands.
Denn die „Einkreisung“, wie die Russen das nennen, kommt nicht nur vom Westen. Sie kommt auch aus den Terror-Strömungen der islamistischen Milieus, um die es zwar ruhiger geworden ist, die jedoch keinesfalls verschwunden sind. Sie mäandern durch das Riesenreich, angestachelt von Agitatoren. Russland muss ständig mit einem Guerilla-Krieg auf eigenem Boden rechnen.
Hinzu kommt: Wegen der Probleme in der Weltwirtschaft brodelt es in vielen ehemaligen Sowjet-Republiken, wie erst kürzlich in Kasachstan zu sehen war. Soziale Unruhen und Aufstände drohen.
Es ist für Russland immer möglich, dass es an seinen Grenzen plötzlich einen „failed state“ hat. Ein solcher kann die Föderation destabilisieren. Diese Gefahr ist real.
Russland sieht sich außerdem einem aufstrebenden China gegenüber. Entgegen der westlichen Lesart ist das für Russland kein Traum, sondern ein Albtraum. „Size matters“ ist ein Prinzip der Ökonomie und auch der schlichten Macht. Putins Vision ist nicht eine neue UdSSR, sondern könnte in einem Schulterschluss bestehen zwischen Russland, Belarus und der Ukraine. Putin hat lange versucht, beim Westen anzudocken. Diese Brücken sind abgebrochen und werden sich nach den deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine auch nicht durch diplomatische Bemühungen revitalisieren lassen: Es riecht nach verbrannter Erde in Europa.
Daher versucht Putin Allianzen: Mit Indien, das ihm aktuell noch zur Seite steht. Oder mit der Türkei - ein Poker mit hohem Einsatz, weil Erdogan unberechenbar und skrupellos ist. In Syrien hat Erdogan eine Invasion durchgezogen, der Westen schwieg und verzichtete auf seine moralischen Klagen. Und die Russen? Konnten Erdogan nicht stoppen - obwohl sie den syrischen Luftraum beherrschen. Erdogan hat ihnen eine Lektion der asymetrischen Kriegsführung erteilt.
Der Blick nach China ist für Russland noch unerfreulicher: China ist nicht nur größer, sondern auch diktatorisch straffer organisiert. Statt der Bürgerrechte gilt in China das Primat des Gemeinwohls. Dieses wird von der Kommunistischen Partei definiert. Früher hieß das: Die Partei, die Partei, die hat immer recht.
Russland dagegen ist ein Chaos-System, in dem die Macht nicht beim Staat liegt, sondern bei den jeweils dominierenden Oligarchen. Viele gut ausgebildete junge Russen im System wollen einen Staat nach westlichem Vorbild, sie wollen Putin und sein Netzwerk loswerden. Eine Veränderung ist schwierig. Aber die modernen Russen sind auch aufsässig, anarchistisch. Man kann sie nicht so leicht knebeln.
Vor allem folgt China wirtschaftlich einer klaren Strategie, denkt langfristig und agiert dynamisch. Anders als Russland hat China seine Wirtschaft längst diversifiziert. Mit Huawei etwa ist das Land heute schon eine Weltmacht im Technologie-Sektor. Mit seinen Investments in aller Welt sitzt Peking längst an den Hebeln der kritischen Infrastruktur. Die Chinesen brauchen kein Stromnetz zu hacken. In vielen Ländern können sie es einfach abschalten.
Die Russen dagegen erinnerten in den vergangenen Jahren immer eher an Ilja Oblomow, die Romanfigur von Iwan Gontscharow: Oblomow ist ein begabter Russe, der sich aber nicht aufraffen kann, sein Leben zu ändern. Er liegt den ganzen Tag im Bett und träumt von seiner Vergangenheit und malt sich seine Zukunft aus. Vergeblich versucht sein deutscher Freund Stolz, den Russen zur Tat zu rufen.
So verhält es sich auch mit den russischen Modernisierungsbemühungen: Seit dem Fall der Sowjetunion sprechen die politischen Führer von der Erneuerung, doch all die Reichtümer des rohstoffreichen Landes wanderten in die Taschen von Oligarchen und korrupten Netzwerken, wie die gebratenen Hähnchen von Oblomows Tisch in seinen immer größer werdenden Bauch.
Die tragische Dialektik der russischen Transformation liegt im Fluch des Reichtums an Öl, Gas und Bodenschätzen. Der Anschluss an den Westen ist nicht gelungen, weil das alte Feudalsystem unter anderem dazu geführt hat, dass die Bevölkerung leidensfähig ist ohne Ende. Für die Jungen gilt dagegen leider: Ihr habt uns Elon Musk versprochen, gekommen ist jedoch Gerhard Schröder. Diese Fehlentwicklung betrifft vor allen jene Generation von Russen, von denen jetzt viele überlegen, auszuwandern: Sie wollen nicht zum Militär eingezogen werden und in einen aus ihren Augen sinnlosen Krieg geschickt werden. Und sie haben das schmierige System einfach satt.
So ähnlich läuft es übrigens in der Ukraine, deren Fahne am Sonntag weltweit als Freiheitsbanner verklärt wurde: Auch hier ist die junge Generation auf der Verliererstraße, vor allem die hervorragenden Fachkräfte in der IT-Branche. Ein Krieg zerstört ihre Perspektiven. Der Angriffskrieg und die Sanktionen, die auch die Ukraine als traditionell wichtigen Partner Russlands treffen, gibt der Jugend im Land den Rest.
Die Ukraine hat es jedoch auch in den vergangenen Jahren nicht geschafft, ihre Institutionen zu modernisieren, die Zivilgesellschaft zu stärken und in der Wirtschaft Transparenz und Corporate Governance zu etablieren. Schon vor einigen Jahren haben Think Tanks der EU-Kommission empfohlen, die Zahlungen an Kiew einzustellen: Es ist faktisch nicht nachzuvollziehen, wo die Milliarden versickern. Im Korruptionsindex von Transparency International fiel die Ukraine im Jahr 2021 sogar noch einen Punkt zurück und liegt jetzt mit 21 Punkten von 100 möglichen nur noch drei Punkte vor Russland (19). Selbst Belarus ist mit 41 Punkten besser.
So taumeln nun also zwei unförmige Riesen gegeneinander, möglicherweise werden sie gemeinsam zu Boden stürzen mit einem dumpfen Knall. Bis dahin jedoch können sie noch ihr natürliches Erbe verprassen. Das ist bedauerlich.
Denn eigentlich hätten gerade Russland, die Ukraine und Belarus die Chance, die geopolitischen Veränderungen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie haben dynamische Gesellschaften, die viele Veränderungen schon gemeistert haben. Sie sind Heimat für viele der heimlichen Technologie-Gurus in Europa. Doch die Erneuerer werden blockiert. Daher ist es schwer vorstellbar, dass ausgerechnet jetzt geschieht, was schon in Friedenszeiten nicht gemacht wurde, nämlich der Aufbau von Rechtsstaat und Demokratie.
Die alten Eliten in Moskau, Kiew und Minsk wissen nämlich: Ihre Rohstoffe werden in der Welt gebraucht. Daher können sie noch eine Weile von den Einkünften leben: Die Ukraine ist der wichtigste Getreide-Exporteur für China. Nur eine Woche vor dem Angriff hat China die Exportbeschränkungen für russisches Getreide aufgehoben. Peking ist wegen der Entwicklung der Lebensmittelpreise besorgt und muss ein Milliarden-Volk ernähren. Erdgas und Erdöl sowie Kupfer, Nickel und andere Rohstoffe für die E-Auto-Industrie sind in Russland und der Ukraine noch reichlich vorhanden. Wegen der Energiewende wird die Nachfrage kurzfristig steigen.
Vor allem Deutschland hat hier eine stabilisierende Funktion: Berlin hat sich vom Atomstrom und der Kohle verabschiedet und ist – wie auch andere europäische Länder wie etwa Italien – von fossilen Energieträgern abhängig. Dies nutzt den greisen Männern an der Macht.
So könnte es zu einer paradoxen Situation kommen in dieser Überbrückungszeit: Alle Beteiligten sind verzweifelt am Erhalt des morschen Status quo interessiert. Der aber hält gerade in einer vibrierenden Zeit der technologischen Vernetzung nur mit diktatorischen Maßnahmen.
Putin und Lukaschenko wollen an der Macht bleiben wie zwei verstockte Greise, die ihren Kindern das Erbe nicht gönnen.
In Europa wünscht man sich nichts mehr, als dass alles wieder so wird wie früher. Und wenn schon Krieg – dann bitte nicht bei uns. Der Westen wird in diesem Umfeld keinen Demokratie-Export lancieren können.
Diese Idee ist schon mit der Türkei krachend gescheitert. Trotzdem – oder gar deshalb? – ist Erdogan heute ein Machtfaktor im geopolitischen Poker.
China braucht die Rohstoffe, um das Experiment der totalitären Marktwirtschaft fortsetzen zu können. Chinas Xi Jinping hat selbst die zarten Versuche, den orthodoxen Kommunismus wenigstens im Internet-Zeitalter aufzubrechen, im Keim erstickt.
Darin liegt auch die größte Gefahr, die aus der aktuellen politischen Radikalisierung erwächst: Das freiheitlich-westliche Modell der liberalen Demokratie wird infrage gestellt - und zwar nicht rhetorisch auf Kongressen, sondern real. Neu und überraschend ist diese Entwicklung indessen nicht: Die Welt befindet sich seit Jahrzehnten im Dauerkrieg, und in den meisten dieser Kriege vertreten auch die Staaten des Westens ihre Interessen mit Waffengewalt, direkter Mitwirkung, bezahlten Söldnertruppen oder lukrieren Profite aus Waffengeschäften: Jemen, Syrien, Libyen, Nagorni Karabach, Irak, der ganze Nahe Osten - überall leiden Menschen seit Jahren, weil es keinen Frieden gibt.
Der Fußtritt gegen das Völkerrecht durch den russischen Angriffskrieg beschleunigt diese Entwicklung. Viele Regierungen wollen die technologischen Innovationen kapern: Statt gute Lebensbedingungen für die nächste Generation zu schaffen, werden die modernen Technologien in den Dienst des Tötens, der Überwachung und der Repression gestellt.
Das Problem des Westens: Er hat durch die Teilnahme an etlichen „Regime Change“-Versuchen ein Glaubwürdigkeits- und Autoritätsproblem. Das gilt auch nach innen: Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, dass manch eine europäische Regierung die Vorzüge einer Kommando-Politik erkannt hat. Die Aushöhlung der Grundrechte, die seit den Terror-Jahren schleichend immer weiter geht, deutet in eine merkwürdige Richtung: Kann es sein, dass wir von China lernen und nicht umgekehrt?
Aktuell gilt international jedenfalls vorerst wieder das Faustrecht. Wo Putin draufsteht, ist Darwin drinnen. Zumindest so lange, bis sich die Jugend der Welt gegen die Despoten erheben wird. Sie wird ihnen klarmachen, dass ein globales Unterdrückungsregime nicht ihren Vorstellungen entspricht. Sie wird die Denkmäler derer vom Sockel stürzen, die ihnen die Zukunft gestohlen haben. Mit den Mitteln des Internet und einer tendenziell mobileren, besser ausgebildeten Generation, kann der Bruch schneller kommen, als es den Kriegsherren von heute lieb ist.