Mitten in der Krise: Ukraine schafft Wehrpflicht ab

Die Ukraine will ein Berufsheer - auch, um die Hochtechnologie aus dem Westen professionell einsetzen zu können.

Präsident Selenskyj präsentiert am 1. Februar 2021 das neue Dekret in der Rada in Kiew.
Präsident Selenskyj präsentiert am 1. Februar 2021 das neue Dekret in der Rada in Kiew.www.imago-images.de

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat das sein Kabinett beauftragt, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, mit dem die Ukraine künftig über eine Berufsarmee verfügen soll. Damit soll laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform die allgemeine Wehrpflicht für ukrainische Staatsbürger ab dem 1. Januar 2024 abschafft werden.

Die neue Armee soll über „ein Modell des Systems der intensiven militärischen Ausbildung“ als eine „Form des befristeten Dienstes“ eingeführt werden. Laut dem Dekret des Präsidenten sollen die Streitkräfte schrittweise auf 100.000 Mann aufgestockt werden und den Übergang zu einer „professionellen Armee“ bilden. Eine Sprecherin der ukrainischen Botschaft in Berlin sagte der Berliner Zeitung, die Entscheidung sei „ein logischer nächster Schritt bei der Reformierung und Modernisierung unserer Armee“. Die Entscheidung basiere auf den eigenen Erfahrungen und den „best practices von unseren Partnern und den besten Armeen der Welt“.

Der Präsident beauftragte die Regierung weiters mit der Ausarbeitung von Vorschlägen, wie die Armee zu einem Berufsheer umgebaut werden könne. Es sei dabei die aktuelle Karriereplanung von Führungspersonal als auch die Situation der Familien von Armeeangehörigen, vor allem im Hinblick auf deren staatliche Wohnungen, zu berücksichtigen. Auch soll es künftig finanziell attraktiver werden, in der Armee zu arbeiten. Selenskyi regte an, auch den Sold für die neue Armee anzuheben. Die Wehrplicht war 2014 nach der dem Beginn der Krise um den Donbass und die Krim eingeführt worden.

Der überraschende Schritt von Selenskyj dürfte auch eine Reaktion auf die schwierige Lage der Armee nach den Jahren des Kriegs sein. Die New York Times berichtet aktuell von der Front und analysiert, dass die ukrainische Armee in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht „den ausgefeilten zeitgenössischen Ansprüchen genügt“, die Nato-Staaten und ihre Armeen auszeichnen. In Vorbereitung auf einen Nato-Beitritt hat die Ukraine zwar schon hunderte Nato-Standards umgesetzt. Doch die Verfassung der Armee ist seit vielen Jahren ein ungelöstes Problem. Dies hänge, so die New York Times, einerseits mit der Kriegsmüdigkeit der Soldaten zusammen. Jetzt schon hat die Regierung Probleme, genügend Leute zu mobilisieren, sie gewährt daher auch Männern über 50 noch Dreijahres-Verträge. Zum anderen stammt die Ausrüstung noch zu großen Teilen aus Zeiten der Sowjetunion, ist also nicht auf dem neuesten technischen Stand. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Personal: Man habe keine High-Tech-Ausbildung und müsse daher zu sehr auf antiquierte Methoden der Kriegführung setzen, so die Times.

Präsident Selenskyj sagte am Dienstag vor der Rada, dem Parlament in Kiew, der Umbau der Armee bedeute nicht, dass die Ukraine kurzfristig einen Krieg vorbereite, sondern langfristig den Frieden sichern wolle. Der Präsident trifft in dieser Woche die Regierungschefs von Großbritannien, Polen und den Niederlanden – alle drei Staaten sind Nato-Mitglieder und unterstützen die Ukraine in der Konfrontation mit Russland.

Besonders Großbritannien will in dem Konflikt die Richtung vorgeben, wird jedoch durch die Verfehlungen von Premierminister Boris Johnson in der Corona-Pandemie behindert: Johnson muss ein wegen der „Partygate“-Affäre verschobenes Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nun am Mittwoch nachholen. Der konservative Regierungschef spiele eine „aktive Rolle“ bei der Suche nach Lösungen in dem zugespitzten Konflikt um die Ukraine, sagte sein Sprecher in London. Am Dienstag flog der Premierminister zu einem Besuch nach Kiew.

Johnson wollte eigentlich am Montag mit Putin sprechen. Da er sich nach der Veröffentlichung eines „Partygate“-Berichts im Parlament lange den Fragen der Abgeordneten stellen musste, kam das Telefonat nicht mehr zustande. Die Opposition kritisiert, der Skandal um Lockdown-Partys in der Downing Street lähme die Handlungsfähigkeit der Regierung. Ursprünglich sollte Außenministerin Liz Truss den Premierminister in die Ukraine begleiten. Die Ministerin musste aber wegen eines positiven Corona-Tests kurzfristig absagen.

In Moskau empfing Putin unterdessen den ungarischen Regierungschef Orban. Zu Beginn des Treffens sagte Orban, sein Besuch in der russischen Hauptstadt sei Teil einer „Friedensmission“. Orban spielt, ähnlich wie der türkische Präsident Erdogan, eine Doppelrolle: Er sieht sich als Schutzherr der ungarischen Minderheit in der Ukraine und setzt auch in Richtung Kiew Zeichen der Zusammenarbeit. Am Dienstag gab Ungarn bekannt, die Ukraine mit Erdgas beliefern zu können, sollte Russland den Transit stoppen. (mit AFP)