Bei seiner skurrilen Rede zu den Segnungen des Leninismus und der Sowjetunion für die Ukraine wirkte Wladimir Putin anders als sonst: Der russische Präsident hatte nichts mehr von einem kühl kalkulierenden Politiker. Seine Mimik war starr, seine Gestik hölzern. Putin wirkte auch nicht pathetisch oder stolz, er erinnerte an Honecker und Mielke und deren leere Blicke, weil man ihnen die Leistungen einer längst versunkenen Zeit nicht mehr als Kredit für die Zukunft anrechnen will.
US-Präsident Joe Biden blieb am Tag nach der Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gleich ganz im Keller des Weißen Hauses. Biden erinnert seit Amtsantritt eher an Andropow oder Tschernenko oder Papst Ratzinger. Schon Donald Trump hatte die Renaissance der alten Männer an den Hebeln der Macht eingeleitet, und all diese Machos von gestern eint der Starrsinn des Alters, also der Gegenpol der Weisheit, die man im Alter vor allem dort findet, wo die Macht weit weg ist.
So aber wird die Welt regiert von Menschen, die offenbar allen Ernstes einen Krieg noch für ein Mittel der Politik halten. Oder aber keine Hemmungen haben, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, indem sie immer neue Drohungen ausstoßen, immer neue apokalyptische Szenarien beschwören, immer extremere Ideen in die Welt setzen.
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Putins Auftritt zeichnete sich außerdem durch einen für russische Verhältnisse untypischen Mangel an Würde aus: Die Inszenierung war unpassend, weil Putin an einem Schreibtisch lümmelte, und der Rede so das Gepräge einer Wirtshaus-Tirade verlieh. Der nackte Oberkörper auf dem Pferd ist schon lange her, und trotzdem muss man fragen: Wollen die russischen Lenker ihre Leute in die Schlacht schicken? Kommt ein Krieg?
Angesichts der aktuellen Ereignisse könnte jedoch ein Verlierer am Horizont auftauchen, der bisher alles getan hat, um nicht aufzufallen: Olaf Scholz, und mit ihm Deutschland.
Oder taktiert Scholz besonders raffiniert?
Die Dramaturgie der Ereignisse, die jetzt im Westen für Aufregung sorgen, war von Russland gut geplant: Der Beschluss der Staatsduma am Tag des ersten Besuchs von Scholz in Moskau hätte das Auswärtige Amt hellhörig machen müssen: Was geht hier vor? Es ist unklar, ob die Russen Scholz eiskalt in die Falle laufen lassen wollten oder ob der deutsche Bundeskanzler in Moskau keine überragende Rolle mehr spielt.
Oder aber, ob er ein Partner wird, dem man einen Ausweg lässt.
In der Abfolge ergibt sich ein diffuses Bild: Scholz wirkte bei Putin ungewöhnlich locker, fast heiter. Im Vorübergehen beleidigte er die Ukraine signifikant, indem er ausgerechnet an Putins Seite sagte, der Nato-Beitritt der Ukraine sei Makulatur. Scholz schien stolz zu sein, dass er in Washington das Wort „Nord Stream 2“ vermeiden konnte. In Moskau erweckte der außenpolitisch Kanzler den Eindruck, als sei es ihm gelungen, einen Draht zu Putin aufzubauen. Und plötzlich heißt es: Krieg!
Dass nur wenige Tage später die Welt an den Rand des Abgrunds taumelt, wirft Fragen auf: Haben die russischen Kollegen den Deutschen etwas vorgespielt? Gab es keine Hinweise? Haben die Diplomaten nichts gehört? Zu wenig analysiert? Scholz falsch gebrieft? Hat ihnen Gerhard Schröder – auch ein Mann von vorgestern – Sand in die Augen gestreut?
Oder aber lässt Scholz Putin bewusst gewähren? Sagt der Kanzler, gemeinsam mit Emmanuel Macron, dass ein Krieg in Europa keinesfalls eine Option ist? Haben sie noch etwas in der Hinterhand? Hat Scholz besonders glänzend taktiert? Der Stopp der Zertifizierung ist keine Strafe für Putin: Die Bundesnetzagentur hat erst im Dezember mitgeteilt, dass der Vorgang bis Juni 2022 dauern werde. Zieht der alte Fuchs Lawrow im Hintergrund die Fäden, und wenn ja welche?
Das Spiel wäre für Deutschland - so oder so - nicht ohne Risiko.
Wenn Putin mit seiner Drohung einer völligen „Dekommunikation“ mit der Ukraine ernst macht, könnte bald schon kein Gas mehr durch das Land fließen. Weil aber die Amerikaner die Bundesregierung darauf verpflichtet haben, bei einer „Invasion“ Nord Stream 2 zu stoppen, kann es eng werden: Was ist eigentlich eine Invasion, und wer definiert das?
Der Falke unter den US-Republikanern, der wahre Erbe von John McCain, Lindsey Graham, hat bereits gesagt, was nun als nächstes geschehen sollte: Zerstört die russische Erdölwirtschaft, versenkt den Rubel, entscheidet die Schlacht um die globale Energie-Dominanz für Amerika!, rief der Senator in Richtung Weißes Haus.
Scholz scheint langsam zu erkennen, dass er in die Ecke gedrängt wird: Seine Mitteilung, die Zertifizierung für Nord Stream 2 zu stoppen, ist auch ein Signal in Richtung Washington. Scholz will transatlantische Bündnistreue zeigen, ohne viel dafür bezahlen zu müssen. Ob die Rechnung aufgeht? Die Amerikaner werden sich nicht so einfach hinters Licht führen lassen.
Wenn es Deutschland nicht gelingt, den Konflikt zu entschärfen, dann könnte es in der Tat bald kalt werden in den deutschen Stuben und finster in den Zimmern: Mit Nord Stream 2 könnte Deutschland die Ukraine umschiffen. Das Timing der Russen ist in diesem Zusammenhang sehr genau kalkuliert: Die Pipeline ist fertig – nun kommt die Eskalation. Oder aber hofft Scholz auf die Emanzipation?
Deutschland muss sich entscheiden – aber wie?
Für Deutschland rächt sich jetzt vor allem, dass es jahrelang darauf verzichtet hat, nach vorne zu denken: Das Bekenntnis zu den „Erneuerbaren“, zuletzt von Scholz noch blumig in Washington vorgetragen, ist Schall und Rauch: Denn ohne Brückentechnologie ist der Industriestandort Deutschland nicht zu halten. Ohne leistbare Energieversorgung läuft Deutschland Gefahr, in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit zu fallen. Die Bundesregierung muss sich bewähren, für das eigene Land, und vermutlich für ganz Europa.