Großangriff auf Kiew in der Nacht

Amerikaner und Briten beobachten Probleme der Russen beim Vormarsch auf Kiew. Selenskyj: „Wir können die Hauptstadt nicht verlieren.“

Die Gefechtslage in der Ukraine.
Die Gefechtslage in der Ukraine.AP

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rechnet mit einem Großangriff der russischen Streitkräfte auf die Hauptstadt Kiew in der Nacht zum Samstag. „Heute Nacht werden sie eine Erstürmung versuchen“, sagte Selenskyj in einer am Freitagabend verbreiteten Videobotschaft. Russland werde „alle seine Kräfte einsetzen“, doch „wir können die Hauptstadt nicht verlieren“, betonte er.

Die Financial Times (FT) berichtet, dass erste russische Truppen zwar die Vororte von Kiew erreicht haben sollen, jedoch auf stärkeren Widerstand stoßen als erwartet. Die Regierung forderte die Leute auf, sich in Häusern in Schutz zu bringen oder Molotow-Cocktails vorzubereiten. Russland forderte die Ukraine auf, Kiew kampflos zu übergeben, um ein Blutvergießen zu vermeiden.

Russland hatte am Donnerstagmorgen mit einem Großangriff auf die Ukraine begonnen. In mehreren Städten schlugen Raketen oder Artilleriegranaten ein. Russische Bodentruppen waren anschließend binnen weniger Stunden bis in den Großraum Kiew vorgedrungen.

Er habe im Laufe des Tages mit mehreren hochrangigen westlichen Politikern gesprochen, darunter US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz, sagte Selenskyj weiter. „Ich habe mehr Hilfe und Unterstützung akzeptiert. Bedeutende Hilfe für unseren Staat.“ Das oberste Ziel sei es „diesem Massaker ein Ende zu setzen“.

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Die russischen Streitkräfte haben bei der Invasion der Ukraine allerdings an Dynamik verloren und kommen nicht so schnell voran wie erhofft. Das sagten anonyme Geheimdienstmitarbeiter der New York Times und der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Während eines sorgfältig formulierten Briefings im Pentagon sagte ein Beamter, dass die „Dynamik der Russen in Bezug auf den Vorstoß nach Kiew nachgelassen hat“, und fügte hinzu, dass „sie nicht so schnell auf Kiew zusteuern, wie sie es erwartet hatten“. Er sagte der Zeitung nicht, woher amerikanische Geheimdienstmitarbeiter wussten, was Russland erwartete, verwies aber auf die Kämpfe in und um eine Reihe von Städten, in denen ukrainische Streitkräfte eine Verteidigung aufgebaut haben.

Der US-Beamte, der unter der Bedingung der Anonymität sprach, zeichnet ein gemischtes Bild der russischen Bemühungen, eine Offensive voranzutreiben, von der Washington und Kiew sagen, dass sie darauf abzielt, die Regierung zu entmachten und ein Marionettenregime zu installieren. „Wir gehen davon aus, dass der Widerstand der Ukrainer größer, ist als von den Russen erwartet“, sagte der hochrangige Beamte und fügte hinzu, dass das Kommando und die Kontrolle der Ukraine über ihr Militär „intakt bleiben“. Die Russen „bewegen sich nicht so schnell auf Kiew zu, wie wir glauben, dass sie es für möglich halten würden. Trotzdem versuchen sie weiterhin, auf Kiew vorzudringen“. Allerdings habe Russland noch nicht den Großteil seiner Kräfte rund um die Ukraine mobilisiert, sagte der Beamte und schätzte ein, dass bis jetzt erst etwa ein Drittel der Kräfte zum Einsatz gekommen sei.

Für keine der westlichen Einschätzungen gibt es eine Bestätigung von unabhängiger Seite.

Die schwierigsten militärischen Situationen werden nach Angaben der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform derzeit in der Nähe von Charkiw gemeldet, in der Region Sumy sowie im Süden der Ukraine beobachtet. Laut einem Ukrinform-Korrespondenten sagte Mykhailo Podoliak, ein Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts, dies bei einem Briefing im Präsidialamt am Freitag, 25. Februar: „Die schwierigste Situation in unserem Land ist heute in Richtung Charkiw, in der Region Sumy und im Süden des Landes, wo ziemlich heftige Kämpfe zwischen den Streitkräften der Ukraine und der Russischen Föderation stattfinden.“

Aus Russland selbst liegen keine Angaben zur Entwicklung um oder vor Kiew vor. Die staatliche Nachrichtenagentur Tass meldet am Freitagabend, die schwersten  Zusammenstöße der russischen Armee im Verlauf der Operation in der Ukraine hätte es nicht mit regulären ukrainischen Streitkräften, sondern mit nationalistischen Gruppen gegeben. Präsident Wladimir Putin sagte am Freitag bei einem Treffen mit den ständigen Mitgliedern des russischen Sicherheitsrates, dass die „Hauptzusammenstöße nicht mit regulären Armeeeinheiten, sondern mit nationalistischen Gruppen“ erfolgt seien.