Putin ist nicht Russland: Man muss ihn stürzen, um das Land und Europa zu retten
Der Filmemacher Alexander van Dülmen liefert eine zornige Abrechnung mit Putin, der jedes Maß verloren hat und sich anschickt, Europa ins Verderben zu reißen.

Die meisten die mich kennen, wissen, wie sehr ich Russland – ja - liebe und können sich vielleicht vorstellen, wie mich die Ereignisse in den vergangenen Tagen mit dem Überfall auf die Ukraine verstören, besorgen und letztens Endes beängstigend. Allein, dass wir heute nach dem Krieg in Jugoslawien wieder einen Krieg in Europa erleben, ist schockierend und deprimierend genug.
Dass der neue Krieg wieder ein Krieg unter ehemaligen Brüdern und Schwestern ist, ist vielleicht die größte Parallele zum Jugoslawien-Krieg. Es gibt aber noch mehr Parallelen zu damals, nämlich den Drang vieler Menschen zu mehr Selbstbestimmung, Freiheit, hin zur Demokratie. Es sind drei Begriffe, die so abgedroschen und so unendlich oft missbraucht wurden und trotzdem stehen sie sicher für drei Dinge, welche die Putin Administration seit Jahren unterdrückt, obwohl sie damit Russland schadet. In Jugoslawien kamen tiefe ethnisch und religiös begründete Verfeindungen hinzu, die von den Mächtigen des Westens und des Ostens ausgenutzt wurden.
Erinnern wir uns an die Anerkennung der sich aus Jugoslawien durch Selbstdeklaration herausgeschiedenen Staaten Kroatiens und Sloweniens durch Hans Dietrich Genscher, den damaligen Außenminister Deutschlands. Mit der Anerkenntnis der Eigenständigkeit dieser Staaten hat er – stellvertretend für den Westen – Tatsachen geschaffen und vielen europäischen Parteien und Partner, die die Homogenität des Balkans anders eingeschätzt hatten und unter Umständen anders hätten beeinflussen wollen, die Türe zugeschlagen.
Bis heute gibt es eine besondere Verbundenheit zwischen Russland und Serbien. Putin hat in den letzten Wochen auf das Ende des Jugoslawien-Kriegs Bezug genommen und den in der Tat völkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Belgrad als Legitimation bedienen wollen, nun in die Ukraine einzumarschieren. Eine breite gesellschaftliche Mehrheit nicht nur in Deutschland hat aus moralischer Sicht den Angriff auf Belgrad als gerechtfertigt empfunden, weil dadurch ein Völkermord unterbunden wurde.
Nun versuchte Putin seinen Einmarsch in die Ukraine ähnlich zu begründen, in dem er sogar gegenüber dem Bundeskanzler Scholz in Moskau behauptet hat, in den mehrheitlich von Russen bewohnten Gebieten des ukrainischen Donezk gebe es einen Genozid gegen eben die Mehrheit der Bevölkerung. Das sind nicht nur falsche Fakten, sondern es ist einfach eine Lüge.
Der Angriff der Putin-Administration ist auch ein Scheitern Westeuropas! Damit spreche ich Putin und seine Mittäter von keiner Verantwortung oder Schuld frei, was diese ohnehin nicht interessiert. Das Minsker Abkommen, das nach der – ebenfalls völkerrechtwidrigen Annexion der Krim – meines Wissens nach der einzige bilaterale Vertrag gewesen ist, den sowohl Russland als auch die Ukraine unterzeichnet haben und damit Rechtsverbindlichkeit hatte, wurde unter der Federführung von Angela Merkel und unterstützend vom damaligen französischen Präsidenten Francois Hollande initiiert und eingefädelt.
Dafür hat sich Angela Merkel sogar mit dem „letzten Diktator Europas“ Alexander Lukaschenko, dem selbstherrlichen Vasallen Russlands, ablichten lassen. Wenn es um etwas ging, dann ließ Angela Merkel immer Fotos mit solchen Männern zu. Wir erinnern an den Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, den sie - am Ende in Europa von allen Nachbarn in der Flüchtlingsfrage allein gelassen - schließen musste, um die Flüchtlingswelle aus Syrien und vielen anderen Ländern nachhaltig abzufangen.
Die Unterschrift des Minsker Abkommens war die Verabredung, eine für beide Seiten akzeptable, friedliche Lösung zu finden. Hier ging es um Autonomie, Sprache, Heimat und nationale Zugehörigkeit. Keine einfachen Themen, bedenkt man, dass auch inmitten Westeuropas immer wieder separatistische Bewegungen großen Zulauf erleben, wie zum Beispiel in Katalonien. Sogar der Startrainer Pep Guardiola unterstützt die Eigenstaatlichkeit und damit Loslösung Kataloniens von Spanien.
Doch Kanzlerin Merkel und die beiden französischen Präsidenten Hollande und Macron haben nicht dafür Sorge getragen, den Friedensprozess des Minsker Abkommens voranzubringen. Eingeschlafen wirkten alle Bemühungen und wenn man dazu eben einen Außenminister erlebt, der besser ein saarländisches BOSS-Anzug-Model geworden wäre als die Interessen der wichtigsten Volkswirtschaft in Europa zu vertreten, dann darf man sich nicht wundern, dass weder die Ukrainer noch die Russen ihre – wohlgemerkt verabredeten – Hausaufgaben gemacht haben.
Ich bin kein außenpolitischer Experte, aber ich höre hin! Ich habe Freunde in und aus der Ukraine und ich habe Freunde in und aus Russland. Interessanterweise kenne ich kaum Menschen aus den jeweiligen Ländern, die nicht eine familiäre oder anders enge Beziehung in das jeweils andere Land haben. Wann immer ich die Gelegenheit hatte über das russisch-ukrainische Verhältnis zu sprechen, zuckten die Gesprächspartner fast immer mit den Schultern und verwiesen dann auf die Fehler und Versäumnisse der anderen Seite.
Wenn der wiedergewählte Bundespräsident Steinmeier Putin dafür kritisiert, dass dieser das Abkommen zerstört hat, dann muss er sich und vor allem sein Nachfolger im Amt des Außenministers, Heiko Maas fragen lassen, was denn der Westen in den vergangenen sechs Jahren – eine genügend lange Zeit – getan hat, das Abkommen mit Leben zu füllen und als Paten Engagement und gegebenenfalls auch Druck auszuüben, das es umgesetzt wird. Das Abkommen verschwand auch bei uns von der Tagesordnung.
Denn in Wirklichkeit ist es doch so, dass sich die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht für die Auseinandersetzung um Donezk oder der Ukraine im Ganzen interessiert. Gibt es innerhalb der EU einheitliche Außenpolitik oder sind es doch die nationalstaatlichen Interessen, die die Außenpolitik bestimmen? Die Fischer in der Normandie schlagen sich seit dem Brexit mit ihren britischen Kollegen um die Fangrechte in der Nordsee herum, dort interessiert sich doch niemand für die Probleme zerrissener Familien im Osten der Ukraine. Es gibt eine – sicherlich in verschiedenen Graden ausgeprägt – gemeinsame Interessenslage aller Mitglieder der EU, die aber so nur von den aller wenigsten ausgesprochen wird: neue Flüchtlingswellen gen Europa zu verhindern.
Nun sind alle überrascht! Mit der Härte und einer solchen Dimension irrsinnigen Handelns der russischen Seite hat wohl niemand wirklich gerechnet. So viele gute Gründe und vor allem Gefühle sprachen dagegen. Weniger, wie ich finde, die Androhung von Sanktionen und sogenannten politischen Konsequenzen in nie gekannter Härte, sondern die tiefen kulturellen, sozialen, familiären und historischen Verbindungen zwischen beiden Ländern, die geschichtlich betrachtet immer ähnlicher, vielleicht sogar gleicher Herkunft gewesen sind. Sachsen, Thüringer, Franken oder Alemannen, alles einst eigene Völker, zählen wir heute zu den Deutschen.
Vieles definiert sich über die Christianisierung, in der Ukraine und Russland ist das der orthodoxe Glaube. Die heutige Ukrainische Orthodoxe Kirche gibt es erst seit 1991, als sich ein Teil des Klerus von der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Moskauer Patriarchat trennte. Wie viele Jahrhunderte müssten in der katholischen Kirche vergehen, bis eine solche Ablösung hingenommen würde? Ich bin kein Historiker, wage aber zu sagen, dass die Verbindung und in gewisser Weise die Zusammengehörigkeit der Ukraine und Russland noch viel weitreichender und tiefer ist als beispielsweise das, was es historisch zwischen Österreich und Deutschland je gegeben hat.
Weg von der Geschichte, hin zum heute: Der Anteil von Menschen im Bereich Film und Medien in Russland, die ukrainische Wurzeln und Herkunft haben, ist sehr groß und vielleicht im Vergleich mit anderen Branchen überproportional größer. Spielte es in den vergangenen dreißig Jahren in meiner Wahrnehmung jemals irgendeine Rolle, ob der mir gegenübersitzenden Einkäufer fürs Fernsehen, Filmregisseur oder Spezialist für Marketing eigentlich aus Odessa oder Kiew stammte, wenn ich mit diesen in Moskau zusammen saß, einen Til Schweiger-Film verkaufte oder die Herausbringung von „Cloud Atlas“ plante?
Die meisten Menschen sind stolz auf den Ort ihrer Herkunft. Aber sie haben genauso gute Gründe dort zu sein, wo man sie bei der Arbeit trifft. Das sind in der ehemaligen Sowjetunion immer noch sehr oft soziale Gründe, aber darüber hinaus auch Aspekte der persönlichen Selbstverwirklichung, der Selbstständigkeit und vielleicht auch manchmal die Liebe. Man mag mir vorwerfen, dass das oberflächliche Sichtweisen sind. Mein Sohn und ich waren gemeinsam mit guten Freunden 2017 auf der fernen Insel Iturup, die zu den Kurilen gehört.
Auch um diese Territorien wird übrigens seit 1945 gestritten, denn die Japaner erheben Besitzansprüche und dieser Streitpunkt ist nie durch einen Friedensvertag geregelt worden. Da war das Minsker Abkommen mehr! Jedenfalls gibt es auf Iturup Fischfarmen, die unter andrem drei Brüdern aus Sachalin gehören und sie zu wohlhabenden Männern gemacht haben. Einer der drei erfuhr vom tragischen Schicksal seines ehemaligen Kameraden der Sowjetarmee. Dieser Kamerad verlor beide seiner Kinder durch einen Autounfall. Das brach sein Herz und das seiner Frau ebenfalls. Der Erzählung nach, wollten sich beide das Leben nehmen. Der Fischfarmunternehmer bot den beiden ein neues Leben auf Iturup an, obschon sie keine Ahnung vom Fischen und vom Meer hatten. Die Eltern der toten Kinder bewohnen heute eine kleine Wohnung auf der Insel. Er baut Gemüse an, das unter den widrigen Wetterverhältnisse nur schwer reift und sie hat uns damals bekocht und bewirtet, arbeitet ansonsten in einer Kantine. Wir haben sie als zwei Menschen kennengelernt, die ihren Frieden gefunden haben, wenn gleich ihr Schmerz in ihre Gesichter geschrieben blieb.
Die Verbindung des Fischfarmunternehmers aus dem fernen Osten Russlands und des Kameraden aus der Ukraine ist für mich das beste und vielleicht auch emotionalste Beispiel, wie tief diese beiden Länder miteinander verbunden sind. In der Roten Armee, die ruhmreich Nazideutschland geschlagen hat, dienten Menschen aller Völker der Sowjetunion. Und wenn ich über die ruhmreiche Rote Armee schreibe und an die Massengräber gefallener Soldaten in Treptow und hunderten anderen Orte denke, dann überkommt mich wieder diese Fassungslosigkeit über die Entscheidung Putins, tats��chlich Krieg gegen die Ukraine zu führen.
Wenn es historisch Erfahrung gibt, welch unfassbares Leid, welch Horror und wie viel Verlust von einem Krieg ausgeht, dann sollte diese insbesondere tief in Russland verankert sein. Ist sie auch! Und gleichzeitig ist sie es auch nicht!! Denn - und das ist vielleicht etwas Obskures - der große vaterländische Krieg war ein aufgezwungener Krieg! Die Opferbereitschaft oder das Hinnehmen von Opfern hatte eine moralische Begründung, vielleicht sogar Berechtigung. Dass Stalin, die Bolschewisten und Kommunisten Millionen ihrer eigenen Leute umbrachten und ermordeten, dass sie also Krieg nach Innen führten, steht auf einem andren Blatt.
Der Marschbefehl von Putin ist die Manifestation eines Angriffskriegs, höchstens vergleichbar mit dem Angriff der Sowjets in den 20iger Jahren gegen Polen und dem Winterkrieg gegen Finnland 1939. Hofften viele in den vergangenen Tagen noch, dass russische Truppen, die von den Separatisten besetzten Gebiete in einer so genannten „Friedensmission“ sichern würden, ist seit Donnerstagmorgen klar, dass es sich um einen Angriff auf die gesamte Ukraine handelt.
Die Begründungen von Putin sind absurd, denn auch in den vergangenen Tagen ging es ihm – laut seiner Aussagen um etwas ganz anderes: keine weitere Ausdehnung der NATO, einen Puffer zwischen Ost und West und weitere Sicherheitsinteressen für die Russische Föderation. Seine rüde Fernsehansprache, in der - sich selbst nicht mehr unter Kontrolle haltend - eine Hasstriade nach der andren in Richtung Kiew schickte, hatte mit der von vielen mit Verständnis aufgenommenen Forderung nach einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa nichts mehr zu tun. Die menschenverachtende Fratze Putins kam hinter seiner Pokermaske hervor!
Genauso wie alle anderen, so mein Eindruck, kann ich die wirklichen Gründe und Gefühle, die Putin zu dieser Entscheidung bewogen hat, nicht nennen. Wir kennen sie nicht. Bezeichnend finde ich aber, dass er sehr isoliert wirkt. Nicht nur die Bilder aus dem Fernsehen in den letzten Wochen, welche die Treffen mit Staatsführern aus anderen Ländern an dem großen Tisch zeigten (Im Übrigen musste auch der bekennende Putin Freund Orban dort Platz nehmen), sondern auch die Unterzeichnung der „Freundschaftsverträge“ mit den beiden selbsternannten Republiken Donezks und Luhansk im großen Saal im Kreml zeigt ihn in gehörigem Abstand auch zu seinem Sicherheitsrat.
Die Herren dieses Rats, die dort auf den Stühlen meistens breitbeinig herumlümmeln, sich, wie der Chef der Auslandsspionage vorführen lassen oder ihr „Disagreement“ hinter versteinerten Gesichtern verbergen, zeigen eines deutlich: Putin ist ihnen entglitten, er sitzt allein, wie ein mächtiger Zar und beherrscht nicht nur die Szenerie, sondern leider ein stückweit in diesem Moment auch die Welt. Das ist sehr beängstigend! Hätte es so weit kommen müssen?
Über das russische Volk und wie dort Politik gemacht wird, will ich nicht richten. Dem „gemeinen“ Russen ist soziale Absicherung und Sicherheit viel wichtiger als politische Freiheit. Die Freiheit zu reisen gibt es, wenn man es sich leisten kann. Weshalb sich viele aus der intellektuellen Elite des Landes mit politischen Stellungnahmen zurückhalten, weshalb es nicht mehr Zwischentöne und in gewisser Weise zivilen Ungehorsam gibt, kann ich nicht erklären.
Die Angst dürfte groß sein, bedenkt man die fatalen Konsequenzen, die manch Oppositioneller auf sich nehmen muss. Die Macht des „Apparates“ ist immer größer geworden. Auch deshalb, weil sich viele Menschen, die ich noch aus den Neunzigern und Nullerjahre kenne, diesem Apparat angeschlossen haben, weil sie von ihm profitieren. Gerade wenn man in Russland über sehr viele Jahre mit Fernsehsendern zu tun gehabt hat, hat man die Einschränkungen erlebt, aber auch erlebt, wie viele der Freunde diese nicht nur hingenommen, sondern oftmals solche mitgetragen haben.
Ost – West, die Konkurrenz der Gesellschaftssysteme, das ist etwas, mit dem wir als Deutsche, die den Mauerfall erlebten, sozialisiert sind. Einen Wettbewerb der Systeme hat es in Russland niemals gegeben. Das Ende der Sowjetunion ist eine Zäsur, von der die allermeisten Menschen nicht profitiert haben. Da wurden keine „blühenden Landschaften“ geschaffen und auch nie das Recht garantiert, dass man sogar eine Partei wie die AfD wählen darf.
Russland, wir erinnern uns, öffnete sich unter der Führung Putins wirklich und Partnerschaften zwischen Deutschland und Russland waren nicht nur möglich, sondern entstanden. Ich als Westdeutscher wurde über viele Jahre beinahe heimisch. Ich habe in Moskau mehr Freunde als in jeder anderen ausländischen Stadt. Dennoch: der Westen hat Russland immer überheblich behandelt. Wir haben es immer besser gewusst. Wir wussten, wie Demokratie geht, wir wussten, wie man besser Autos baut, wir wussten, wie man das mit den Banken macht und wir wussten „denen“ Versprechen zu machen, die wir nicht eingehalten haben.
Wir wollten ein Haus Europas, aber ausschließlich nach unseren Regeln und wenn wir die mal wieder selbst nicht formulieren konnten, weil die Meinungen darüber innerhalb der EU so weit auseinander gingen, dann gaben uns die Amerikaner eben Formulierungen an die Hand. Die politische Emanzipation Deutschlands von den USA begründete sich in der Weigerung der damaligen Bundesregierung, mit den Amerikanern in den Krieg gegen den Irak zu ziehen.
Dadurch öffnete sich eine weitere Tür nach Russland und die beiden Männer Putin und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder etablierten ihre Männerfreundschaft, so wie das viele andere deutsche Wirtschaftsmänner dann mit russischen Geschäftspartnern taten. Das Moskauer Hotel Baltshug hat in der Zeit die größten Gewinne gemacht. Hier konnte man sogar den deutschen Außenminister Steinmeier kennenlernen, der vor seinem Rückflug nach Berlin noch schnell einige Wirtschaftsvertreter traf. Ich schreibe Männer, weil es Männer waren! Die Einzige, die da dann später nicht mehr reinpasste, war Angela Merkel. Dazu noch, da sie bedingt durch ihre Biografie ihre eigene Wahrnehmung von Russland hatte. Zu dieser Zeit habe ich nicht nur von den Perspektiven der Zusammenarbeit beider Länder gesprochen, sondern wir haben sie gelebt.
Ich kann nicht sagen, ab wann was genau schiefgelaufen ist. Aber der deutschen und westlichen Überheblichkeit folgte eine gewisse Enttäuschung – auf beiden Seiten! Einmal einfach ob des fehlenden Respekts – immerhin sind die Russen in zehn der letzten zwanzig Jahre die einzigen gewesen, die den Transport zur Internationalen Raum Station ISS garantieren konnten – zum anderen, weil man die wirtschaftlichen Schwächephasen Russlands geopolitisch ausgenutzt hat.
Klar, wir reden hier über den weltbeherrschenden Kapitalismus und aus dieser Sicht steht Russland wirklich beschissen da: Das Land ist komplett vom Export von Gas, Öl und natürlichen Ressourcen abhängig. Viele, vor allem auch Putin selbst, haben sich bereichert und das Geld außer Landes gebracht. Wie viele russische Oligarchen sind zu großen internationalen Investmentfonds mutiert? Die meisten reichen Russen haben ihr Land schon lange verlassen und pumpen lieber Millionen in Fußballvereine, während Rentnerinnen in Altai am Hungertuch nagen. Ein Grund, dass auch die deutsche Seite enttäuscht ist.
Ich glaube, dass ein wichtiger und vom Westen mitzuverantwortender Wendepunkte der syrische Bürgerkrieg und der Kampf gegen den IS gewesen ist. Russland hat die verbrecherische Führung Syriens gestützt und trotz unfassbar vieler unschuldiger Opfer einen Sieg errungen. Syrien ist zerstört und Millionen Syrier sind geflohen. Doch der russische Einsatz hat die Region stabilisiert. Es fällt mir sehr schwer, das so einzugestehen, aber mir fällt kein anderes Wort als „stabilisiert“ ein.
Dieser Erfolg, so fragwürdig dieser auch ist, hat Russland zurück gebracht ins internationale Spiel der Großen. Dadurch, dass die Russen auch im Vergleich zu den Westeuropäern wirklich überall mitmischen, wurden sie wieder zu einer Art Weltmacht. Die ganze Welt hat einfach zugeschaut, wie Russland Stück für Stück leider nicht das eigene Land, aber eben seine Armee modernisiert hat. Russland ist neben den USA und Deutschland der größte Waffenlieferant der Welt. Man refinanziert die Modernisierung also durch den Export, die Welt zahlt. Sogar das NATO-Mitglied Türkei erwarb kürzlich modernste Waffen aus Russland. In diesen Tagen wird mit moderner Waffentechnik und gut ausgebildeten, teilweise in Syrien und Libyen kampferprobten Truppen Krieg gegen die Ukraine geführt.
Der Überfall auf die Ukraine ist auch deshalb ein Scheitern Westeuropas, weil es keinen Mut für eine Lösung gegeben hat, wie man die Interessen Russlands in Osteuropa berücksichtigen und unseren östlichen Partnern trotzdem Sicherheit gewähren könnte. Immer neue Angebote für eine weitere Anbindung an die EU und den westeuropäischen Markt wurden der Ukraine gemacht. Dann wieder verworfen. Viele Angebote wurden aber in bekannter Überheblichkeit an Bedingungen geknüpft, die aus geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen nicht umsetzbar gewesen sind. Immerhin, auch wenn die Ukraine, wie Putin behauptet, ein korruptes Land ist, dann ist das ein Problem der Ukraine und nicht Russlands.
Der Westen, nein die ganze Welt muss anerkennen, dass es der ukrainischen Gesellschaft gelungen ist, demokratische Strukturen und eine emanzipierte Zivilgesellschaft aufzubauen. Immerhin wurde der letzte Präsident abgewählt und die Macht auf den neuen ohne Gewalt und Putsch übertragen. Wenn man an die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken denkt, eine unvorstellbare Errungenschaft. Vergesst nicht, vor wenigen Wochen erst, wurden über 40 Menschen in Kasachstan getötet und über 4000 (!) verhaftet, weil sie sich, aus welchen Gründen auch immer, gegen die dortigen Mächtigen erhoben hatten.
Meistens gingen die wirtschaftlichen, teilweise auch berechtigten Interessen Deutschlands in Russland gegenüber der Ukraine vor. Man nahm Rücksicht auf Putin, von dem man heute weiß, dass er alle hintergangen hat! Dennoch muss man in diesem Zusammenhang erwähnen, dass der Ausbau von Nord Stream 2 zu einem globalen Problem wurde, weil es die Amerikaner so wollten! Weshalb darf Deutschland eigentlich kein Gas direkt aus Russland beziehen? Wenn wir nun besonders schmutziges Flüssiggas in den USA kaufen, dann kommt das mit dem Schiff und wird auch nicht an der Westküste Frankreichs in eine Pipeline gepumpt und bei Saarbrücken ins deutsche Gasnetzwerk eingespeist.
Die Amerikaner würden sich bei strategischen Partnerschaften doch nicht von einer dritten Nation abhängig machen. Wer hätte denn in den letzten zehn Jahren eine Garantie abgegeben, dass die Regierungen in der Ukraine stabil und zuverlässig agieren würden? Sind wir heute klüger? Ich bleibe dabei, Russland ist genauso von Deutschland abhängig, wie wir von Russland. Die Ukraine ist in einer viel schlechteren Position, denn wir sind von ihr nicht abhängig. Ja, das ist ungerecht.
Wie schon geschrieben, wir haben die Chancen verpasst und die Zeit versäumt, diese Katastrophe in der Ukraine zu verhindern. Gerade als Deutsche, die wir als Paten des Minsker Abkommens eine besondere Aufgabe übernommen hatten, haben nicht genügend investiert. Dass das allein am politischen Personal gelegen hat, wage ich einmal zu bezweifeln.
Es fehlt den Europäern eine gemeinsame Position, die von Frankreich und Deutschland formuliert hätte werden können. Nicht zu vergessen, dass insbesondere Polen in diesem Meinungsfindungsprozess eine wichtige Rolle spielen müsste. Das Dilemma aus deutscher Sicht aber geht tiefer, denn es ist meine Partei der Sozialdemokraten, die hier in einer besonderen Verantwortung steht.
Die deutschen Sozialdemokraten haben mit der durch Willy Brandt formulierten Ostpolitik einst für eine Verständigung zwischen Ost und West gesorgt. In den letzten 16 Jahren stellten sie zwölf Jahre lang den Außenminister und nun wieder den deutschen Kanzler. Die SPD muss ihre Position modernisieren und dann deutlich machen. Das erfordert aus meiner Sicht eine deutliche Abgrenzung vom ehemaligen Kanzler Schröder.
Der Schuldige aber ist ausgemacht. Es gibt keine Rechtfertigung für den Angriff auf die Ukraine. Nichts wird diese Mittel heilen und ich wage die übermütige Behauptung, dass Schröders Freund Putin diese Entscheidung politisch nicht überleben wird. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in Russland eine glaubwürdige Mehrheit in der Bevölkerung gibt, die diesen kriegerischen Akt billigt oder gutheißt. Trotz massiver Propaganda, trotz dieser patriotischen Scheiße, die Menschen in Russland und in der Ukraine werden ihre innige Verbindung nicht kappen können.
Das zu befürchtende menschliche Leid, die Toten auf beiden Seiten, der Verlust in vielerlei Hinsicht, all das werden gefälschte Berichte und Behauptungen über die „Notwendigkeiten“ dieser Aktion, nicht verdecken können. Hier geht es nicht um die Unterstützung für einen mittelasiatischen Potentaten, es geht um den Boden gemeinsamer Geschichte.
Das ist kein Krieg zweier Völker, sondern zweier Staaten, die mehr oder weniger den gleichen Ursprung und die gleiche Geschichte haben. Die Mehrheit der Menschen in Russland, so ist meine Einschätzung, ist gegen diesen Krieg. Hoffentlich werden diese Stimme bald laut! Wir dürfen jetzt nicht pauschal alle Russen über einen Kamm scheren! Wir müssen unsere Freundschaften erhalten, wir müssen sie sogar pflegen!
Wir müssen reden und wir müssen helfen. Es ist aber die Aufgabe einzig der russischen Gesellschaft, ihren Führern die Grenzen aufzuzeigen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass das subtiler als erwartet und nicht ganz so lange dauern wird. Russland wird isoliert werden. Die Chinesen warten schon darauf, Russland weiter leerzukaufen. Man kann nur den Kopf schütteln.
Die junge Generation der Ukraine, vor allem die Menschen, die nach 1990 auf die Welt gekommen sind, werden sich endgültig von Russland abwenden. Eines Tages werden diese Menschen die Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine stellen. Die EU, die Europäer oder Amerikaner müssen ihnen keine Angebote mehr machen. Diese Menschen nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Die Aufgabe, Frieden zwischen beiden wieder herzustellen, fällt den „älteren“ Generationen zu. Wünschen wir, dass sie den Einfluss haben und das Gehör finden. Durch das Versagen des europäischen Westens wird es schwer sein, die Autorität zu haben, als Deutsche oder Europäer glaubwürdige Friedenskonzepte durchzusetzen.
Der große Gewinner am Ende sind die Amerikaner. Diesmal sage ich, dass sie dieses Ziel ohne eine ausgefeilte Strategie erreichen. Putin und seine Administration haben ihnen das am Donnerstag zum Geschenk gemacht. Europa und viele andere Länder auf der Welt werden weniger Rohstoffe aus Russland kaufen und in bestimmten Bereichen vor allem in den USA. Genauso wie die russische Regierung in den vergangenen Jahren davon profitierte, dass sich Europa nicht einig gewesen ist, profitierten die USA davon. Präsident Trump hat daraus kein Geheimnis gemacht.
Europa, die EU und an erster Stelle Deutschland unterstützen schon in den letzten Jahren, nun aber umso mehr, die Ukraine mit sehr viel Geld. Vielleicht war es anfänglich die Idee des einen oder andere aus Europa, dass diese Gelder dazu eingesetzt werden, Flucht zu vermeiden – ich erinnere an die Milliarden der EU, die an die Türkei bezahlt wurden. Nun aber kaufen die Ukrainer mit dem Geld Waffen. Bei den Amerikanern und vielleicht auch ein wenig bei den Briten. Wir Deutschen lieferten kostenlos Helme und verkaufen unsere Waffen lieber nach Saudi-Arabien und andere Schurkenstaaten, aber nicht an die Ukraine.
Aus Verantwortungsbewusstsein und historischen Gründen. Ach ja, und weil wir eine gewisse Neutralität wahren wollen! Wir, die größte Wirtschaftsmacht in Europa. Diese Neutralität ist nichts anderes als unsere Wirtschaftsmacht zu schützen. Denn die Männerfreundschafen nach Russland werden so schnell nicht aufgekündigt, zumindest so lange nicht, wie man Gerhard Schröder heißt und einem der Geschäftspartner egal ist. Dass sich die Ukrainer von den Deutschen im Stich gelassen fühlen, ist nur allzu verständlich.
Meine Liebe zu Russland erlischt nicht. Putin ist nicht Russland. Meine Beziehungen zu meinen Freunden in Russland genauso wenig, wenn gleich ich der offenen Diskussion über unterschiedliche Sichtweisen nicht aus dem Weg gehen werde, sondern diese viel mehr fördern möchte. Jede Meinung, so absurd sie auch erscheinen mag, kann ein Stück Wahrheit in sich haben. Das fördert die Kenntnis und damit auch das Verständnis.
Ich möchte weiterhin Filme mit Russland realisieren und wünsche mir nichts mehr, diese eines Tages auch in Kiew ins Kino zu bringen.
Meine Solidarität ist bei allen, die ihr Land und ihre völkerrechtlich bestätigte Selbstbestimmung verteidigen! Meine Gedanken sind bei den Opfern. Ich bete für den Frieden!
Alexander van Dülmen ist seit 1990 in der Filmbranche tätig. 1997 hat er den Film „Knockin‘ On Heaven’s Door“ mit Til Schweiger unter anderem auf das Moskauer Film Festival gebracht. Seit dieser Zeit hat er ununterbrochen Filme in Russland, der Ukraine und allen andren GuS-Staaten ausgewertet. Von 2003 bis 2015 war er Vorstand der A Company Filmed Entertainment, die ein großes Filmvertriebs- und Verleihnetzwerk in Osteueropa betriebt. Seit 2006 hat das Unternehmen verschiedenen Tochtergesellschaften in Russland betrieben. Heute ist van Dülmen vor allem Produzent. Er hat unter anderen den ARD Film „Die Getriebenen“ auf der Basis des Sachbuchs von Robin Alexander produziert. Der letzte Film, der im September letzten Jahres ins Kino kam, hieß „Ein nasser Hund“ und erzählt die Geschichte eines jüdischen Jugendlichen, der im Wedding unter Arabern, Türken und Kurden aufwuchs.