Selenskyj sagt zwischen den Zeilen allen anderen: „F... you!“

Der frühere ukrainische Comedian hat in München ein dialektisches Meisterwerk abgeliefert, an dem Washington und Moskau einiges zu kauen haben werden.

19. Februar 2022, München: Kamala Harris (r), Vizepräsidentin der USA, und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, kommen bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu bilateralen Gesprächen zusammen.
19. Februar 2022, München: Kamala Harris (r), Vizepräsidentin der USA, und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, kommen bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu bilateralen Gesprächen zusammen.AP Pool/AP

Die wichtigste Rede bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) hielt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der frühere Komiker und Schauspieler, der aus der russischsprachigen Industriestadt Krywy Rig stammt, legte ein dialektisches Meisterwerk vor, welches im russischen Kulturkreis vermutlich besser verstanden werden dürfte als im intellektuell etwas eindimensional gewordenen Westen. Selenskyjs Rede war vermutlich auch nicht an die in München versammelte Rüstungslobby gerichtet, sondern an den wichtigsten abwesenden Teilnehmer, nämlich Russland.

Der Sinn von Selenskyjs Rede (hier im Wortlaut deutsch) erschließt sich vor allem zwischen den Zeilen. Selenskyj wies auf den größer gewordenen geopolitischen Kontext hin, in dem der Konflikt zu sehen sei, und erklärte seine Bereitschaft, eine über die deutsch-französischen Bemühungen hinausgehende Vermittlung akzeptieren zu wollen. Er sagte: „Wir sind bereit, in allen möglichen Formaten und Plattformen nach dem Schlüssel zum Ende des Krieges zu suchen. Paris, Berlin, Minsk. Istanbul, Genf, Brüssel, New York oder Peking – egal, wo wir uns in der Ukraine auf Frieden einigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gespräche unter Beteiligung von vier, sieben oder hundert Ländern geführt werden. Hauptsache, die Ukraine und Russland gehören dazu.“

Der Präsident kritisierte die halbherzige Unterstützung durch die EU und den Westen. Die Waffen und „5000 Helme“, die Kiew bekommen, seien nicht Almosen, sondern das Gegenstück für eine West-Orientierung der Ukraine. Selenskyj forderte schließlich sehr direkt ein Ende des Versteckspiels des Westen und sagte, dass die Nato die Ukraine aufnehmen solle. Dies solle sofort geschehen, am besten auf dem kommenden Gipfel in Madrid. Oder die Nato solle der Ukraine sagen, dass sie niemals werde beitreten können: „Wir brauchen offene Antworten, keine offenen Türen.“ Diese Forderung sorgte für Unbehagen in den USA: Die New York Times schreibt, Selenskyj habe mit der Darstellung der Nato-Mitglieder als zerstrittene Gruppe die gegenteilige Botschaft der US-Regierung verbreitet, welche immer betone, dass der Westen geeint und geschlossen sei.

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Die Forderung nach einem sofortigen Beitritt ist also brisant. Sie ist vor allem unerfüllbar: Aktuell schließen einige Nato-Staaten explizit den Beitritt der Ukraine aus, so zuletzt Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau bei seinem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Selenskyj sagte, dass die Ukraine von der ganzen Nato abgelehnt würde, wenn einzelne sein Land ablehnen. Die Nato hat sich bisher damit beholfen, die Ukraine auf die Nato-Standards umzustellen. Doch das kann lange dauern und bietet vor allem nicht die Beistandspflicht laut Artikel 5.

Selenskyj beklagte, dass die Ukrainer vor acht Jahren für den Westen gestimmt und „ihre Wahl getroffen“ hätten. Viele hätten für die „europäischen Perspektiven“ „ihr Leben gegeben“. Selenskyj wurde schließlich sehr deutlich und deutete – zwischen den Zeilen – an, dass auch die Möglichkeit bestehe, dass die Ukraine wieder in den russischen Einflussbereich fallen könne, und zwar aus Enttäuschung.

Laut der englischen Übersetzung seiner Rede durch die staatliche ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform sagte er: „Seit 2014 sagt (wörtlich: überzeugt, Anm. d. Red.) uns die Russische Föderation, dass wir den falschen Weg gewählt haben, dass niemand in Europa auf uns wartet. Sollte Europa nicht ständig sagen und durch Taten beweisen, dass dies nicht stimmt? Sollte die EU heute nicht sagen, dass ihre Bürger dem Beitritt der Ukraine zur Union positiv gegenüberstehen? Warum vermeiden wir diese Frage? Verdient die Ukraine nicht direkte und ehrliche Antworten?“ Selenskyj hatte noch eine Spitze für den Westen parat, in dem er sagte: „Ich möchte glauben, dass der Nordatlantikvertrag und Artikel 5 effektiver sein werden als das Budapester Memorandum.“

Mit der Thematisierung des Budapester Memorandums präsentierte Selenskyj Moskau eine unerfreuliche Überraschung, die von den russischen Medien am Sonntag sichtlich irritiert aufgegriffen wurde: Der ukrainische Präsident stellte einen Ausstieg seines Landes aus dem Budapester Memorandum in den Raum. Ein solcher Schritt würde bedeuten, dass die Ukraine wieder Atomwaffen besitzen könnte. Denn in dem Abkommen wurde festgelegt, dass die Ukraine eine internationale Garantie ihrer Sicherheit bekäme, wenn sie auf ihren Status als Atommacht verzichtet.

Selenskyj sagte: „Die Ukraine erhielt Sicherheitsgarantien für den Verzicht auf das weltweit drittgrößte Nuklear-Arsenal. Wir haben diese Waffen nicht mehr. Wir haben aber auch keine Sicherheit. Wir haben auch einen Teil unseres Territoriums verloren, der größer ist als die Schweiz, die Niederlande oder Belgien.“ Daraus folge, dass Kiew aus dem Memorandum aussteigen könnte, falls die kürzlich von der Regierung einberufenen Konsultationen weiter von Russland blockiert werden. Sollte die Konsultationen nicht „stattfinden oder zu keinen konkreten Entscheidungen zur Gewährleistung der Sicherheit unseres Staates führen, wird die Ukraine mit Recht glauben, dass das Budapester Memorandum nicht funktioniert und alle Beschlüsse des Pakets von 1994 in Frage gestellt wurden“. Selenskyj schlug in diesem Zusammenhang die Einberufung eines Sondergipfels des UN-Sicherheitsrats vor, unter der Beteiligung Deutschlands und der Türkei.

Die in München anwesenden Vertreter des Westens hatten Schwierigkeiten, mit der überraschenden Dynamik des Ukrainers Schritt zu halten und beschränkten sich auf die bereits in den vergangenen Tagen kaskadenhaft verbreiteten apokalyptischen Visionen: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, Russland plane „einen vollständigen Angriff auf die Ukraine“. US-Vizepräsidentin Kamala Harris sagte: „Wir erhalten jetzt Berichte über offensichtliche Provokationen und wir sehen, wie Russland Falschinformationen, Lügen und Propaganda verbreitet.“

Der britische Premierminister Boris Johnson sagte, Russland plane „den größten Krieg seit 1945“ und warf Moskau vor, ein „Spinnennetz an Falschinformationen“ aufzubauen. Die britische Regierung will dagegenhalten und gab am Sonntag bekannt, die nach dem Kalten Krieg deaktivierte eigene „Aufklärungs-Einheit“ wieder aktivieren zu wollen, eine sogenannte „Government Information Cell“: Sie solle die russischen Positionen konterkarieren, sagte Außenministerin Liz Truss der Mail am Sonntag. Innenministerin Priti Patel schrieb im Telegraph, dass die Briten die russische „Informations-Aggression“ gezielt mit Experten bekämpfen werde.

Mehrere US-Politiker hatten Selenskyj dafür kritisiert, dass er in der Stunde der schweren Bedrohung überhaupt das Land verlassen habe und nach München gereist sei. Die New York Times berichtet vom sarkastischen Kommentar des ukrainischen Präsidenten in Richtung US-Falken: Er habe in Kiew gefrühstückt und werde zum Abendessen wieder zurück sein, sagte Selenskyj am Samstag in München.