Wer dem Westen Gehorsam verweigert: Die post-amerikanische Welt wird sichtbarer
Die neuen Blockfreien scheren aus: Neben Indien, China, Mexiko und Türkei verhalten sich auch andere wichtige Staaten im Ukraine-Krieg neutral. Warum?

Berlin-Der russische Krieg in der Ukraine entwickelt sich zum Ausgangspunkt für das Entstehen einer neuen Bewegung der Blockfreien. Eine wachsende Zahl von Ländern, darunter die bevölkerungsreichsten der Erde, nehmen in dem Konflikt – trotz heftigen Drängens westlicher Staaten, den Überfall auf die Ukraine eindeutig zu verurteilen – eine neutrale Haltung ein. Neben Indien und China weigern sich Brasilien, die Türkei, Indonesien, Südafrika, Mexiko und weitere kleine Länder, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen oder das Putin-System diplomatisch zu isolieren.
Zu dieser Einschätzung kommt die renommierte unabhängige Website The Intercept (von engl. abfangen, abhören) der gleichnamigen NGO, die nach Enthüllungen Edward Snowdens über die weltweite US-Spionage von dem Journalisten Glenn Greenwald und der Filmemacherin Laura Poitras gegründet wurde. Beide wurden weltbekannt, weil sie das Material des ehemaligen CIA-Mitarbeiters und Whistleblowers aufbereiteten und publizierten. Beide gehören zu den Initiatoren der Freedom of the Press Foundation.
Die neutrale Haltung
The Intercept beleuchtet in der Analyse mit dem Titel „Not One Bloc or the Other: Ukraine War Shows Emerging Post-American World“ einen im Westen wenig beachteten Aspekt: den Blick des globalen Südens auf den Konflikt. Viele Länder haben eigene Beziehungen zu Russland aufgebaut – auch als Gegengewicht zur globalen Übermacht der Vereinigten Staaten.
Die neutrale Haltung dieser Länder, in denen etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, wirke schockierend auf die westlichen Eliten, schreibt der auf Sicherheits- und Außenpolitik spezialisierte Autor Murtaza Hussain. Diese seien über Jahrzehnte gewohnt gewesen, „anderen Nationen zu erklären, welche Position sie in geopolitischen Fragen einzunehmen hatten“. Aber, so die Erkenntnis: Die Art und Weise, wie der Westen als Supermacht während des Kalten Kriegs agierte, „wirkt nicht mehr“.
Die Vertrauenswürdigkeit der USA ist verdorrt
Dass diese „unabhängige, nicht-alliierte Weltordnung“ ausgerechnet in dem Moment Konturen gewinnt, da die amerikanische Politik sich auf strenge moralische Werte beruft, sei eine Ironie der Geschichte. „US-Politiker kritisieren ja Russland zu Recht für die brutale, unprovozierte Invasion in einem souveränen Land“, heißt es da. Der Einsatz nackter Gewalt, um eine Demokratie zur Aufgabe ihrer Unabhängigkeit zu zwingen, „ist eine gefährliche Entwicklung, die mit allem Recht verdammt werden kann“. Allerdings sei nach Jahrzehnten amerikanischer Aggressionen und des Machtmissbrauchs in weiten Teilen der Welt die Vertrauenswürdigkeit der USA verdorrt.
Statt sich dem einen oder anderen Block anzuschließen, entsteht nach Einschätzung des Autors „eine wahrhaft post-amerikanische Welt“: „Großmachtkandidaten wie Indien und China machen sich eigener Menschenrechtsverletzungen schuldig, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder in die Rolle als Bittsteller des Westens zurückfallen.“