Wie es ist, mit einem zu leben, der acht Monate im Jahr auf den Weltmeeren unterwegs ist: Die Seemannsbraut
Wenn es um Piraten geht, höre ich weg. Ich tue so, als ob mich das Thema nicht interessiert. Piraten? Keine Ahnung. In der Zeitung blättere ich weiter. Im Fernsehen schalte ich um. Das Ausblenden gelingt mir gut. In letzter Zeit wird es aber schwieriger. Das Thema ist zu präsent. "Hast du denn gar keine Angst?", fragen mich Freunde und Kollegen. Natürlich habe ich Angst. Große Angst sogar.Mein Freund ist Seemann. Genauer gesagt Nautischer Offizier. Er fährt auf Containerschiffen um die ganze Welt. Zum Glück ist sein Schiff gerade nicht in der Nähe von Somalia. Auch nicht in der Malakka-Straße. Sein Schiff ist in einer Werft in Ost-China. Es wird in einer Art Schiffs-TÜV generalüberholt. Mein Freund ist in Sicherheit. Früher oder später sind aber die neuen Radarsysteme eingebaut, alle Kranseile gewechselt, die neue Farbe getrocknet. Dann geht es wieder los. Noch weiß er nicht, wohin.Vor mehr als acht Jahren habe ich ihn kennen gelernt, meinen Seemann. Wir studierten beide in Bremen. Er studierte Nautik, ich Journalistik. Das zweite Semester hatte gerade begonnen. Ich war auf einer Wohnheim-Party. Irgendwann stand er neben mir. Er sah gut aus, er hatte ein schönes Lächeln. Mir gefielen seine braunen Augen, die er zusammenkniff, wenn er lachte. Ich mochte seinen sonnigen Teint. Er sei in Hamburg geboren, aber seine Mutter komme aus Brasilien, erzählte er. Ich kam aus Falkenberg/Elster, einer Kleinstadt in Brandenburg. Sein Name war Heribert. Ich dachte, er wolle mich auf den Arm nehmen. Heribert - so heißt man doch nicht mit Anfang 20. So heißt man auch nicht mit einer brasilianischen Mutter. Sein Vater, erklärte er, komme aus Bayern und heiße ebenfalls Heribert, Heribert Riesenhuber. Ich verlangte seinen Personalausweis.Wir stellten fest, dass wir auf demselben Flur wohnten. Heribert, den alle Bertl nannten, wohnte erst seit kurzem in Bremen. Sein erstes Semester hatte er auf einem Kühlschiff verbracht. Es transportierte Bananen von Ecuador nach Syrien, Fleisch von Brasilien nach Saudi Arabien und Thunfisch von den Seychellen nach Spanien.Nautiker beginnen ihr Studium in Bremen immer mit einem sechsmonatigen Praktikum. Es ist eine Art Test. Die Einsamkeit an Bord, die Hierarchien innerhalb der Besatzung, die permanente Enge. Die Schifffahrt hat nicht mehr viel mit Seefahrerromantik zu tun. Die Liegezeiten an den Häfen sind kurz. Das Leben an Bord ist hart. Seemänner arbeiten sieben Tage in der Woche. Über Monate hinweg. Praktikanten müssen das Deck schrubben und im Kühlraum die Inventurliste der Essensvorräte durchgehen. Viele stellen während des Praktikums fest, dass die Seefahrt doch nicht das Richtige für sie ist. Früh genug, um sich die Sache noch einmal anders zu überlegen.Heribert gefiel seine Seefahrtzeit aber ausgesprochen gut. An unserem ersten Abend schwärmte er von fremden Ländern, von der internationalen Crew, von Delfinen, die neben dem Schiff in den Sonnenuntergang springen und vom Gefühl der Unendlichkeit des Meeres. Ich hörte gerne zu.Wir begegneten uns immer wieder. In der Mensa, im Supermarkt, an der Straßenbahnhaltestelle. Er jobbte hinter der Theke im Wohnheim-Café. Ich ging nun häufiger dorthin, das Bier gab er mir aus.Ab und zu klopfte er bei mir, weil er Milch, Salz oder einen Dosenöffner brauchte. Ich klopfte bei ihm, um zu fragen, wann er seine nächste Schicht im Café hatte. Wir lernten uns immer besser kennen. Irgendwann gingen wir gemeinsam nach Hause.Ich machte mir damals keine Gedanken über ein eventuelles Leben als Seemannsbraut. Ich war 21. Ich hatte nicht vor, den Mann fürs Leben zu finden.Dass die Sache ernst war, merkte ich erst, als er zu seinem zweiten Praktikumssemester aufbrach. Die Zeit davor war schrecklich. Ich fing an, die Tage und Stunden bis zum Abschied zu zählen. Wir versuchten, die gemeinsame Zeit besonders zu genießen. Aber ich ruinierte alles mit meiner schlechten Laune. In Bremen wohnten wir Tür an Tür, wir sahen uns fast täglich. Wie würde es sein, wenn wir uns sechs Monate überhaupt nicht sahen?Es war Ende März, als er aufbrach. Anfang Oktober würde er wiederkommen. Im März denkt man noch nicht an den Oktober. Im März denkt man an den Frühling. Vielleicht schon an den Sommer. Aber der Oktober ist unendlich weit weg. So weit weg wie Weihnachten.Da er seine Familie noch sehen wollte, die jetzt in Niederbayern wohnte, hatte er beschlossen, von München aus nach Gibraltar zu fliegen. Dort ging er dann an Bord. Wir verabschiedeten uns am Bremer Hauptbahnhof. Heribert trug seinen mehr als 30 Kilogramm schweren Seesack auf dem Rücken. Der ICE fuhr ein. Wir umarmten uns ein letztes Mal.Bahnhöfe sind nichts für große Abschiede. Bahnhöfe sind etwas für Wochenendbeziehungen. Für den Abschied für ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen. Beim Flugzeug ist es anders. Man verabschiedet sich vor der Sicherheitsschleuse, es gibt Glastüren und Wachpersonal. Von dort geht es nicht weiter. Beim Zug ist man bis zum Schluss dabei. Man hat das Gefühl, einfach einsteigen und mitfahren zu können. Am liebsten hätte ich das gemacht. Es ging nicht. Am nächsten Tag begann auch mein Praktikumssemester. Die Türen des Zuges schlossen sich. Ich konnte Heribert nicht mehr richtig erkennen. Ich winkte meinem eigenen Spiegelbild. Es sollte unser letzter Bahnhofsabschied sein.Ich zog für ein Praktikum in eine Wohngemeinschaft nach Hamburg. Ich hoffte, es wäre leichter in einer neuen Umgebung, weil mich nicht immer alles an Heribert erinnern würde. Aber das war Unsinn. Wenn man einen Menschen vermisst, erinnert alles an ihn. Plötzlich waren überall Schiffe. Nicht nur in der Elbe. Jeder Film, den ich sah, jedes Buch, das ich las, jedes Lied, das ich hörte: Schiffe. Auch glückliche und verliebte Paare waren überall. Ich hasste es, wenn sie sich vor meinen Augen küssten. Sollen sie doch nach Hause gehen, dachte ich. Manchmal zischte ich es auch im Vorübergehen. Und schämte mich danach.Ich kaufte mir eine große Weltkarte und hängte sie an die Wand. Immer, wenn Heribert mich anrief, fragte ich ihn nach seiner genauen Position. Ich stellte mich vor die Weltkarte in meinem WG-Zimmer und zeichnete mit dem Zeigefinger seine Route nach. Später markierte ich seine Schiffsroute mit roten Wollfäden und klebte Fotos von ihm dorthin, wo er selten lang fuhr.Abends, im Bett, schrieb ich ihm. Keine E-Mails, sondern handgeschriebene Briefe. E-Mails waren teuer. Ich musste mich bei einem Satelliten-Anbieter anmelden. Jedes Zeichen kostete Geld. Sogar die Leerzeichen. Außerdem landeten alle E-Mails immer erst einmal beim Kapitän.Das Briefeschreiben per Hand hatte etwas Heilsames. Es war ein bisschen wie früher, in der Pubertät, mit dem Tagebuch. Ich schrieb ihm, wie es mir ging, was ich den Tag über so gemacht hatte, wie sehr ich ihn vermisste. Ich wollte nicht, dass er etwas in meinem Leben verpasst. Ich hatte Angst, dass wir uns fremd werden könnten. Wenn ich zwölf Seiten beschrieben hatte, schickte ich den Brief an seine Reederei, ihm zu Händen, inklusive Schiffsnamen. Sein Schiff hieß White Sun. Weiße Sonne.Die Briefe waren oft mehrere Wochen unterwegs. Die Reederei schickte sie an einen Agenten vor Ort. Wenn das Schiff im Hafen einlief, brachte der Agent die Briefe zum Kapitän, der verteilte sie an die Besatzung. Manchmal bekam Heribert zwei oder drei Briefe auf einmal. Ich fing an, die Briefe zu nummerieren.Am Anfang schrieb ich ihm auch, was in den Nachrichten lief. Ich machte mir Notizen, während ich die Tagesschau sah. Ich schrieb ihm vom Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, vom Mord am Niederländer Pim Fortuyn und von der Kirch-Krise. Natürlich schickte ich ihm auch die Bundesliga-Ergebnisse. Vor allem die Ergebnisse des HSV. Ich schrieb sogar kurze Spielberichte. Aber bevor sie bei ihm ankamen, telefonierten wir, und er lachte. Sie empfingen Deutsche Welle-Radio an Bord. Ich hörte auf mit meinen Berichten.Die Tage vergingen langsam. Wir telefonierten etwa einmal in der Woche. Oft nur für zwei oder drei Minuten. Wenn er Landgang hatte und sich eine Telefonkarte kaufte, auch mal etwas länger. Aber nie lange genug.Wenn ich in den Nachrichten etwas von einem Schiffsunglück hörte, zuckte ich zusammen. Ich lief zur Karte und vergewisserte mich, dass es unmöglich sein Schiff sein konnte. In Geografie habe ich große Fortschritte gemacht.Wenn Heribert sich längere Zeit nicht bei mir gemeldet hatte, und ich mir Sorgen machte, rief ich einfach an. Er hatte mir die Satellitentelefonnummer des Schiffes gegeben. Für Notfälle, sagte er. Wenn ich mich sorgte, war es ein Notfall. Trotz verschiedener Billig-Vorwahlen kostete die Gesprächsminute schon mal zehn Euro. Und es dauerte oft etwas länger, bis er endlich auf der Brücke und damit am Telefon war. Die Telefonrechnungen überstiegen meinen BAföG-Satz bei Weitem.An meinem 23. Geburtstag klingelte mein Handy kurz vor Mitternacht. Heribert wollte der erste Gratulant sein. Ich hatte Freunde eingeladen und ging ins Nebenzimmer. Er sagte, dass es ihm so leid tue, nicht mit mir feiern zu können. Ich musste weinen und konnte nicht wieder aufhören. Meine Augen waren rot, mein Gesicht schwoll an. Ich musste warten, bevor ich wieder zurück zu meinen Gästen gehen konnte.Ein paar Stunden später, die Party war längst vorbei, rief Heribert mich noch einmal an. Ich schlief bereits, wurde wach und ging ans Telefon. Aus dem Tiefschlaf gerissen, machte ich ihm Vorhaltungen. Ich sagte ihm, dass sein Berufswunsch egoistisch sei, dass ich so nicht leben wolle. Es war kein schönes Telefonat.Am nächsten Tag tat es mir leid. Ich entschuldigte mich per Brief und nahm mir vor, fortan eine tapfere Seemannsbraut zu sein. Ich schrieb ihm auch, dass ich auf gar keinen Fall möchte, dass er meinetwegen seinen Traumjob aufgibt.Heribert träumte schon als kleiner Junge davon, Kapitän zu werden. Sein Vater, der ebenfalls Kapitän war und später als Elblotse in Hamburg arbeitete, nahm seinen Sohn mit auf die großen Containerschiffe. Der kleine Heribert war begeistert.Heriberts Vater ist mittlerweile pensioniert. Wenn die beiden zusammensitzen, reden sie viel über die Seefahrt. Meistens geht es um die Unterschiede zwischen der Seefahrt früher und der Seefahrt heute, wie es war, als man noch Wochen an einem Hafen lag und eigenhändig Kiste für Kiste in den Laderaum trug. Heute erledigen das Kräne. Kisten sieht man kaum, fast nur noch Container. Die Container sind verplombt. Oft weiß man nicht einmal mehr, was sich darin befindet.In unserer Beziehung hat sich auch vieles verändert. Das Studium haben wir längst abgeschlossen, wir wohnen in Berlin und haben uns zu einem echten Seemannspaar entwickelt. Klar vermisse ich ihn, wenn er weg ist. Aber ich leide nicht mehr so. Die Trauer und Einsamkeit sind einem gewissen Stolz gewichen. Heribert ist 28 Jahre alt und mittlerweile zum Ersten Offizier befördert worden. Der Erste Offizier ist der Verantwortliche für die Seetüchtigkeit des Schiffes und für die Beladung. Er ist unmittelbar dem Kapitän nachgeordnet und bei dessen Abwesenheit sein Stellvertreter.Ich glaube, Heribert ist richtig gut in dem, was er auf dem Schiff tut. Im vergangenen Jahr bin ich für drei Wochen mitgereist. Ich wollte wissen, was so toll daran ist, monatelang auf einem Schiff zu sein. Weit weg von Familie und Freunden. Die Reise hat mir und uns gut getan. Das Schiff fuhr fast ausschließlich durch die Karibik: Jamaika, Dominikanische Republik, Venezuela, Aruba, Panama, Trinidad, Puerto Rico und wieder Jamaika. In den Containern waren Zucker, Obst, Textilien und Autoreifen. 27 Besatzungsmitglieder aus fünf Nationen arbeiteten an Bord. Deutsche, Russen, Ukrainer, Filipinos und Kiribatis. Ich war die einzige Frau. Ich war begeistert vom kollegialen und freundschaftlichen Umgang der Männer. Vom Gefühl der Freiheit beim Blick von der Brücke aufs offene Meer.Acht Monate im Jahr ist Heribert nun immer unterwegs, "auf großer Fahrt", so heißt es, wenn ein Seefahrer weltweit die Meere bereist. Heribert arbeitet für eine Hamburger Reederei, und bei jeder Fahrt ist er auf einem anderen Schiff, mit einer anderen Besatzung, auf einer anderen Route. Nach vier Monaten kommt er für zwei Monate nach Hause. Dann geht es wieder von vorne los. Er führt zwei Leben, das eine an Bord, das andere zu Hause. Aber auch ich führe eine Art Doppelleben.Ich genieße die Zeit des Alleinseins mittlerweile sogar ein bisschen. Wenn Heribert weg ist, ernähre ich mich gesünder, ich lese mehr und habe mehr Zeit für Freunde. Ich verabrede mich, gehe auf Konzerte, ziehe mit meinen Single-Freundinnen durch die Clubs. Ich verreise an den Wochenenden und fahre auch mal alleine in den Urlaub.Viele denken, dass ich meinen Freund betrüge. Ein Kapitän erzählte mir mal, dass es nicht die Seemänner seien, die Affären haben, sondern die Frauen daheim, die die Einsamkeit nicht ertragen könnten. Die Ausflüge an Land, bei denen Seeleute sich in Bars mit Mädchen vergnügen, zählen für sie nicht als Fremdgehen. Frauen sehen das anders. Ich frage Heribert nach jeder Reise. Er empört sich dann fürchterlich über meine Frage, und ich bin beruhigt.Wir vertrauen uns. Eifersüchtig bin ich trotzdem. Als Gefahr sehe ich nicht die Frauen an den Häfen. Sondern die Frauen an Bord. Nicht selten kommt es vor, dass auch Frauen zur Besatzung gehören. Praktikantinnen, Auszubildende, Köchinnen, weibliche Offiziere, sogar weibliche Kapitäne gibt es.Vor ein paar Monaten hatte ich einen Albtraum. Ich träumte, Heribert würde sich von mir trennen. Er erzählte mir am Telefon, dass er sich in eine Offiziersanwärterin verliebt habe. Es sei alles ganz toll, sie würden viele Interessen teilen. Nicht nur die Seefahrt, auch die Vorliebe für Science-Fiction-Filme. Es war ein sehr realistischer Traum. Ich liebe ruhige und humorvolle, deutsche und französische Filme. Science-Fiction-Filmen kann ich nichts abgewinnen. Wenn Heribert Urlaub hat, stehen wir oft in der Videothek und können uns nicht entscheiden. Meistens nehmen wir dann zwei Filme mit nach Hause. Einen für ihn, einen für mich. In meinem Traum hatte ich großes Verständnis für seinen Entschluss. Ich wünschte ihm alles Gute und legte auf. Als ich aufwachte, war ich fix und fertig. Ich griff zum Handy und rief ihn an. Sein Schiff lag gerade in Ägypten im Hafen von Port Said. Ich erzählte ihm von meinem Traum. Er musste lachen. Es war die einzig richtige Reaktion.Das Beste an unserer Seefahrer-Beziehung sind die Wiedersehen. Schon Tage bevor er nach Hause kommt, habe ich ausnahmslos gute Laune. Ich bereite alles vor. Ich kaufe Sachen ein, die er mag. Fleisch, Popcorn und Schokolade. Ich besorge Geschenke, einen riesigen Blumenstrauß und decke einen Willkommenstisch. Ich bastle einen Urlaubsplan und trage alle festen Termine ein. Meine Wochenenddienste, meinen Urlaub, Geburtstage von Familie und Freunden. Ich rufe seine besten Freunde Kirchi, Hoize, Boje und Dammal an. An die anderen schreibe ich Mails mit der guten Nachricht, dass Heribert endlich nach Hause kommt.Dann stehe ich am Flughafen und bin nervös. Jedes Mal habe ich panische Angst davor, dass die Liebe weg sein könnte, dass er vor mir steht und ich nichts empfinde. Ich ihn nicht mehr attraktiv finde, ihn nicht mehr riechen kann. Oder noch schlimmer: dass er mich nicht mehr liebt. Ich habe Herzklopfen und weiche Knie. Dann sehe ich ihn, wie er durch die Glastür kommt. Jedes Mal gut zehn Kilogramm leichter als beim Abschied, braungebrannt, seinen riesigen Seesack auf dem Rücken. Wenn er dann vor mir steht, gutaussehend, gut riechend und mit einem umwerfenden Lächeln, drücken wir uns und sofort schießen mir die Tränen in die Augen. "Warum weinst du eigentlich nie, wenn ich fahre, sondern nur, wenn ich wiederkomme?", fragte er mich einmal.Von Frauen werde ich oft bedauert und mitfühlend gefragt, wie ich das alles nur aushalte, wann er endlich damit aufhört. Ich sage dann, dass er noch nicht am Ziel ist. Er will Kapitän werden, das ist sein Traum. Danach werden wir weitersehen. Männer beneiden uns eher um unsere Beziehung, zumindest behaupten sie es.Wo er gerade sei, fragt mich auch mein Gynäkologe, wenn ich zu ihm in die Sprechstunde komme. Ich hatte ihm mal erzählt, dass mein Freund Seemann sei und wir uns mit dem Kinderkriegen noch Zeit lassen wollen. Vielleicht war das ein Fehler. Mein Arzt redet seitdem nur noch von Seemannsknoten, hohen Wellen und seinem letzten Segeltörn. Wahrscheinlich hat er einen Seefahrer-Vermerk in meine Patientenakte gemacht.Ich muss immer ein paar Regeln beachten, wenn Heribert nicht da ist. Ich versuche, Liebesfilme zu meiden, verabrede mich nicht oder nur in Ausnahmen mit Pärchen, und auf gar keinen Fall darf ich alleine auf eine Hochzeit gehen. Im letzten Sommer heirateten meine Freunde Kathrin und Jan. Sie waren ein wunderschönes und glückliches Brautpaar. Unter den Gästen waren fast ausnahmslos Paare. Ich fühlte mich einsam und fehl am Platz und habe mir geschworen, nie wieder ohne Heribert auf eine Hochzeit zu gehen. Wahrscheinlich muss ich diesen Schwur schon im nächsten Sommer wieder brechen. Meine beste Freundin Meike heiratet im August. Nach meinen Berechnungen wird Heribert nicht da sein.Natürlich verpasst er viele Dinge in seinen insgesamt acht Monaten Abwesenheit. Während seiner letzten Reise verpasste er den kompletten Berliner Sommer, meinen 29. Geburtstag, den 80. Geburtstag seines Vaters, die besagte Hochzeit und diverse andere Partys und Familienfeiern. Die EM hat er auch verpasst, und die Olympischen Spiele. Sowie das Ende der letzten und den Start der neuen Bundesligasaison.Die verpasste EM war wahrscheinlich das schlimmste Opfer. Heribert liebt Fußball, und manchmal ruft er mich von irgendwo auf dieser Welt an, nur um zu erfahren, wie der HSV gerade gespielt hat, und wer die Tore geschossen hat. Früher war ich ein bisschen beleidigt über solche Anrufe. Mittlerweile freue ich mich, von ihm zu hören.Wenn ich ihm einen Brief schreibe, stecke ich immer auch ein paar Fußballzeitschriften in den Umschlag. Ich befürchte, dass er sie noch vor meinen Briefen liest. Er bestreitet das. Ich schreibe ihm noch immer täglich. Jeden Abend setze ich mich hin und berichte, was den Tag über passiert ist. Es gibt auch noch immer eine Karte, in der ich die Position seines Schiffes eintrage. Mittlerweile ist es eine Weltkarte mit Korkuntergrund, die in unserem Flur hängt, und in die ich kleine Fähnchen stecke. Für die Route nehme ich immer noch rote Wollfäden.Vor ein paar Tagen bekam ich wieder einen Artikel über Piratenangriffe von einer Freundin weitergeleitet. "Ich musste an Dich denken. Vielleicht interessiert es Dich", schrieb sie. Ich bedankte mich bei ihr. Für den Artikel, und dafür, dass sie an mich gedacht hat. Gelesen habe ich den Text nicht.