Arbeitsbedingungen bei einem Online-Versandhandel: Wie sich Amazon gegen Vorwürfe des Lohndumpings wehrt

In der Lagerhalle von Amazon in Brieselang reiht sich ein Regal an das nächste. Ein schlanker Mann geht suchend eines der gut zwei Meter hohen Regale entlang, sein Blick schweift über die kleinen Fächer, in denen Bücher, Spielsachen, Handtücher verstaut sind. Jedes Fach ist mit einer Nummer beschriftet: E335, F347, D349. Der Mittvierziger sucht eine E-Nummer, nach ein paar Metern macht er kehrt und wird auf der anderen Seite des Regals fündig. Er nimmt ein gelbes Reclambüchlein aus dem Fach, scannt den Barcode mit einem Handgerät ein und legt das Buch in den roten Plastikkorb, der an seinem Unterarm hängt.

Der 45-Jährige ist als Saisonkraft fürs Weihnachtsgeschäft eingestellt worden, zuvor war er arbeitslos, erzählt er der Journalistin, die ihm – in Begleitung eines Amazon-Managers – bei der Arbeit zuschauen darf. Was er gelernt hat? „Diplom-Ingenieur“, antwortet er und sagt noch ungefragt: „Die Bezahlung ist gut.“

Das sehen viele seiner Kollegen nicht so und machen ihren Unmut auch öffentlich deutlich. Seit mehr als zweieinhalb Jahren streiken sie immer wieder für höhere Löhne, auch jetzt, in der Hochsaison. Am Freitag legten wieder einmal mehr als 200 Amazon-Beschäftigte in Leipzig die Arbeit nieder. Die Gewerkschaft Verdi wirft dem Konzern vor, mit seiner geringen Bezahlung die gesamte Branche unter Druck zu setzen. Der Deutschlandchef von Amazon, Ralf Kleber, behauptet zwar: „Wenn Glatteis ist, juckt uns das weit mehr, als wenn Verdi zum Arbeitskampf aufruft.“ Doch vielleicht will er damit nur die Streikenden demotivieren. Der Dauerkonflikt ist jedenfalls nicht gut fürs Image.

Und so lädt Amazon Journalisten seit einiger Zeit zur Weihnachtssaison in ihre Versandlager ein. In diesem Jahr auch wieder nach Brieselang, rund 40 Kilometer nordwestlich von Berlin. „Amazon ist ein guter Arbeitgeber“, steht in einer Mitteilung, die an die Medienleute verteilt wird. Und der Standortleiter von Brieselang, Karsten Müller, erklärt, was das Management darunter versteht. Die Informationsfreude des Managements hat allerdings Grenzen.

So berichtet Müller, dass Amazon im vorigen Jahr bundesweit 1200 neue feste Stellen geschaffen habe, auch in Brieselang gebe es mehr unbefristete Stellen. Ob der Zuwachs in diesem Jahr bundesweit weiter ging, ist nicht zu erfahren.

Jobrückgang trotz Wachstums

Insgesamt benötige Amazon in dieser Weihnachtssaison in Brieselang rund 1000 Festangestellte und Saisonkräfte, erklärt Müller und räumt ein, dass es ein Jahr zuvor noch 1 500 Beschäftigte waren. Warum schrumpft die Belegschaft, obwohl der Gesamtkonzern stark wächst? „Wir sind effektiver geworden“, sagt Müller. Der örtliche Betriebsratschef Kai Scherbarth vermutet jedoch, dass es noch einen Grund für den Jobrückgang gibt: Vor einiger Zeit habe Amazon riesige Lagerhallen in Polen und Tschechien eröffnet. Diese Zentren könnten auch Bestellungen aus Deutschland liefern.

72 Prozent der Mitarbeiter in Brieselang seien unbefristet beschäftigt, betont Müller. Dies gelte für die Monate Januar bis September, also außerhalb der Hochsaison. Deutschlandweit hätten 80 Prozent einen unbefristeten Vertrag. Anders formuliert: Während des regulären Geschäftsverlaufs haben 20 Prozent der Beschäftigten eine befristete Stelle, in Brieselang sogar 28 Prozent. Im Vergleich mit anderen Unternehmen ist das ein sehr hoher Anteil unsicherer Jobs: Bundesweit haben laut Statistischem Bundesamt rund acht Prozent aller Arbeitnehmer einen befristeten Vertrag, eine ähnliche Quote verzeichnet der Einzelhandel. Beim Otto-Unternehmen Hermes Fulfilment, das ebenfalls Versandzentren betreibt, sind es rund zehn Prozent.

An allen deutschen Standorten erhalten Amazon-Mitarbeiter laut Management nach der jüngsten Lohnerhöhung mindestens zehn Euro pro Stunde, dies gelte für Festangestellte und Saisonkräfte. Das entspricht einem Bruttomonatsgehalt von knapp 1 700 Euro bei einer Vollzeitstelle. Damit lägen die Löhne am oberen Ende dessen, was in vergleichbaren Jobs bezahlt wird. Amazon nimmt dabei die Logistikbranche zum Maßstab.

Nach Ansicht von Verdi müssten die Stundenlöhne für viele Mitarbeiter allerdings mehr als 30 Prozent höher liegen. Die Gewerkschaft hält Amazon für einen Versandhändler und fordert darum, dass die Belegschaften nach den regionalen Tarifverträgen für den Einzel- und Versandhandel bezahlt werden. Der Großteil der Lagerarbeiter im Versandhandel erhalte über 13 Euro pro Stunde, in Brandenburg betrage der entsprechende Tariflohn 12,28 Euro, sagt eine Verdi-Sprecherin. Zudem seien Zusatzleistungen wie Jahreszahlungen bei Amazon niedriger als im Tarifvertrag vorgesehen, und die meisten Boni könnten jederzeit wieder gestrichen werden.

Gleichzeitig würden Beschäftigte in Feedback-Gesprächen gedrängt, schneller zu arbeiten. Wie das konkret aussieht, will Betriebsrat Scherbarth nicht sagen, weil die „Verbesserung der Feedback-Prozesse derzeit ein Gesprächsthema zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung ist“. Mit seiner geringeren Entlohnung verschaffe sich Amazon unfaire Wettbewerbsvorteile gegenüber Online- und Versandhändlern wie Otto und stationären Einzelhändlern, die sich an Tarifverträge halten, kritisiert die Verdi-Sprecherin. „Damit setzt das Unternehmen die gesamte Branche unter Druck.“ Amazon ließ eine schriftliche Bitte um Stellungnahme zu diesem Vorwurf unbeantwortet.

Seit April 2013 streiken Amazon-Beschäftigte immer wieder für Tariflöhne, in Leipzig, Bad Hersfeld, Rheinberg, Graben, Werne, Pforzheim und Koblenz. Brieselang ist das einzige Versandlager, an dem es bisher keinen Ausstand gab. Der Standort sei noch relativ jung, erklärt die Verdi-Sprecherin. Menschen in einer „gewerkschaftsfeindlichen“ Firma zu organisieren, brauche eben Zeit. Generell müssten die Leute selbst entscheiden, was sie wie durchsetzen wollen, fügt sie hinzu.

Folgen der Streiks

Dabei hätten die Arbeitskämpfe in den anderen Zentren durchaus etwas bewirkt: Amazon sei zuerst gegen Betriebsräte gewesen. Nun gibt es an allen deutschen Standorten Betriebsräte, was das Management selbst inzwischen als positiv herausstreicht. Die jüngsten Lohnerhöhungen seien ebenfalls Erfolge der Streiks, argumentiert Verdi.

Die zentrale Gewerkschaftsforderung nach Tarifbindung lehnt Amazon aber weiter ab. Das Management weigere sich sogar, Verhandlungen aufzunehmen, kritisiert die Verdi-Sprecherin. Der Konzern wolle sich nicht an rechtssichere Zusagen binden, sondern „willkürlich und einseitig“ die Arbeitsbedingungen diktieren. So habe das Management kürzlich beschlossen, dass Beschäftigte in Leipzig nur noch 28 statt 29 Urlaubstage erhalten. Diese Freiheit des Unternehmens bedeute für die Belegschaft schlicht mehr Unsicherheit hinsichtlich Arbeitszeiten und Löhnen.