Neue Lücke: Hat Habeck beim Gas-Ausstieg falsch gerechnet?
Robert Habeck wollte die Gaskraftwerke für die Energie-Wende ausbauen: Nach dem Angriff Russlands geht das nicht mehr. Auch der Atom-Strom wird fehlen.

In Deutschland könnte sich mit dem völligen Ausstieg aus dem russischen Erdgas schon bald eine zusätzliche Lücke auftun, die bei den bisherigen Planungen nicht berücksichtigt wurde: Die Energiewende der Koalitionsregierung sieht unter anderem den Ausbau von Gaskraftwerken vor, um einen realistischen Energiemix erreichen zu können. Laut der Studie „Klimapfade 2.0“ des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) vom November 2021 soll ein Zubau von über 40 GW Kapazität von Gaskraftwerken mit der Fähigkeit der Zumischung von 20 Prozent Wasserstoff ( H2-ready) erfolgen.
Das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln interpretiert die Koalitionsvereinbarung dahingehend, dass 23 GW bis 2030 über Gaskraftwerke zugebaut werden sollen. Diese Planung dürfte nicht halten, wenn Deutschland vollständig aus dem russischen Gas aussteigt oder Russland Deutschland den Gashahn weiter zudreht.
Nabu: „Die Bundesregierung muss den Kurs korrigieren“
Sebastian Scholz, Fachbereichsleiter Klima- und Umweltpolitik beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), sagte der Berliner Zeitung, dass diese Planungen revidiert werden müssten: „Die Bundesregierung muss den Kurs korrigieren und den Ausbau und die Förderung von Gaskraftwerken stoppen. Das ist aus der Zeit gefallen.“ Die geopolitische Lage gibt demnach einen Ausbau beim Gas nicht her. Scholz: „Wir dürfen keine neuen Abhängigkeiten schaffen.“ Allerdings sieht auch der Nabu-Experte, dass eine Neuplanung schwierig werden dürfte und schränkt seinen Widerspruch daher ein: „Wenn neue Gaskraftwerke gebaut werden sollten, dann müssen sie so gebaut sein, dass sie später auf Wasserstoff umgerüstet werden können.“
Der Ausstieg aus dem Gas ist für die Bundesregierung ein Rückschlag, weil sich Deutschland eben erst bei der EU-Kommission durchgesetzt hatte, dass Gas als grüne Technologie anerkannt wird und daher auch entsprechend gefördert werden darf.
Französischer EU-Kommissar: Deutschland soll Laufzeit der Kernkraftwerke verlängern
Das Brüsseler Zugeständnis war gekommen, weil Frankreich darauf bestanden hatte, dass auch die Kernenergie als grüne Technologie eingestuft wird. In Deutschland hält die Bundesregierung vorerst am Ausstieg aus der Kernenergie fest. Aktuell liefern die noch in Betrieb befindlichen AKWs etwa 12 Prozent des gesamten deutschen Strombedarfs. Mit dem Wegfall der Kernenergie ergibt sich für Deutschland also das Dilemma, dass die Kernenergie nicht nur nicht als Ersatz für russisches Gas herangezogen werden kann, sondern ein weiterer wichtiger Baustein für die Energieversorgung wegbricht.
Der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton forderte die Bundesregierung daher auf, „die Ideologie hinter sich zu lassen“ und die Laufzeit der drei verbleibenden Kernkraftwerke zu verlängern. Die drei AKWs sollten „ein oder zwei Jahre“ länger am Netz bleiben, sagte Breton am Samstag dem Radiosender France Inter. Eine Laufzeitverlängerung würde nach Ansicht Bretons zur Lösung des Problems der Energieknappheit wegen reduzierter russischer Gaslieferungen beitragen.
Wie angespannt die Lage ist, zeigt ein Appell der französischen Energiekonzerne: Die Unternehmen TotalEnergies, EDF und Engie teilen in einer gemeinsamen Stellungnahme mit, dass der Verbrauch von Kraftstoffen, Öl, Strom und Gas wegen der drohenden Knappheit und des Preisanstiegs „sofort“ reduziert werden müsse. Andernfalls sei im nächsten Winter der „soziale Zusammenhalt“ gefährdet, so die Chefs der Unternehmen laut dem Journal du Dimanche.
Der Appell macht klar, dass Deutschland nicht auf Atomstrom-Importe aus Frankreich setzen kann. Die französische Atomwirtschaft befindet sich ohnehin im Umbruch: Zahlreiche Werke müssen renoviert oder erneuert werden, weshalb die Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist: „Atomstrom aus Frankreich ist kurzfristig keine Alternative, weil die Flotte der französischen AKWs nur begrenzt verfügbar ist“, sagte Nicolas Wendler, Pressesprecher von Kerntechnik Deutschland, der Berliner Zeitung.
Betreiber der deutschen Kernkraftwerke: Verlängerung grundsätzlich möglich
Die Betreiber der bestehenden deutschen Kernkraftwerke könnten zwar über den Schließungszeitpunkt hinaus weiter Strom liefern. Auch die Beschaffung der Brennstäbe dürfte kein Problem sein, weil diese nicht aus Russland kommen, sondern in Deutschland und Schweden gefertigt werden. Allerdings fehlt den Betreibern eine klare Ansage von der Bundesregierung.
Wendler: „Die Rückbauvorbereitungen haben begonnen. Die Betreiber haben keine Signale aus der Politik bekommen, dass die Laufzeit verlängert werden soll. Daher wird weiter für eine Abschaltung am 31.12. geplant.“ Grundsätzlich wäre eine Verlängerung möglich, so Wendler. Doch „dann bräuchte es aber die Zusage, dass ein mehrjähriger Betrieb ermöglicht wird“. Laut Wendler würden „kaum zusätzliche Kosten für die Steuerzahler anfallen“. Allerdings müsste sich die Politik „schnell entscheiden, damit eine Gesetzesänderung rechtzeitig in Kraft treten kann und vor allem in der Umsetzung die erforderlichen Maßnahmen rasch eingeleitet werden können.“
Der Nabu lehnt dagegen den Weiterbetrieb der AKWs ab. Sprecher Scholz: „Die Atomkraftwerke tauchen bei jeder Energie-Debatte wie Untote wieder auf.“ Eine Verlängerung der Laufzeit sei „keinesfalls eine Option“: „Kernenergie ist nicht nachhaltig, die Gewinnung von Uran ist nur mit enormen Umweltschäden möglich, und die Frage der Endlager ist völlig ungeklärt.“
Unklar ist allerdings auch, wie es in Deutschland angesichts der Versorgungslücken weitergehen soll. Kernkraft-Sprecher Wendler: „Was nötig ist, ist eine Strategie, wie die Energiewende unter den neuen Gegebenheiten umgesetzt werden soll.“ Auch die ökologische Lobby hat keine schnellen Lösungen bei der Hand. Nabu-Sprecher Scholz: „Wir wollen nicht, dass die Industrie stillsteht, die Menschen ihre Arbeit verlieren oder zu Haus frieren müssen.“
Doch auch die aktuell forcierten Windanlagen sind umstritten. So steht zwar in allen Strategiepapieren über den Ausstieg aus dem russischen Gas, dass die Windenergie ein zentraler Träger der Zukunft sein solle. Doch wächst der Widerstand gegen die riesigen Windanlagen, und die Suche nach unumstrittenen Standorten wird immer schwieriger. Scholz über das Ziel, zwei Prozent der deutschen Grundfläche für industrielle Windparks umzuwidmen: „Entscheidend beim Ausbau der Windenergie ist eine gute Planung.“ Wie schwer das ist, zeigt sich am Berliner Senat: Der will nun prüfen lassen, ob Windräder nicht auch im Stadtbereich aufgestellt werden könnten. Scholz ist skeptisch: „Das Aufstellen von Windrädern im Grunewald halte ich für keine gute Idee.“ (mit AFP)