Bundeswehr kann warten: Junge Ökonomen fassen Deutschlands Sicherheitsprioritäten neu
Legen wir die Hand aufs Herz: Die Aufrüstung muss nicht das Ziel Nr. 1 sein. Deutschlands große Probleme liegen gerade im Energiebereich. Ein Lösungskonzept.

Der russische Angriffskrieg hat die deutsche Sicherheitspolitik auf den Kopf gestellt. Mit 100 Milliarden Euro soll die Bundeswehr in den nächsten fünf Jahren aufgerüstet werden. Der Krieg hat aber vor allem eines deutlich gemacht: die erhebliche deutsche Energieabhängigkeit von Russland.
Erst vergangene Woche hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen – wegen zu geringer Lieferungen von russischem Gas. Energiesicherheit und -Unabhängigkeit sind mit einem Mal der neue Imperativ. Eine beschleunigte Transformation zur Klimaneutralität dient somit nicht nur ökologischen Zielen. Sie wird zur Kernfrage einer neuen Sicherheitspolitik.
Aber was haben bisher? Die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz vorerst ausgerufen hat, betrifft bislang ein neu einzurichtendes Sondervermögen für die Bundeswehr. Sondervermögen sind vom regulären Bundeshaushalt abgetrennt. Im Unterschied zum jährlich neu verhandelten Bundeshaushalt können durch Sondervermögen Mittel zweckgebunden für einen längeren Zeitraum bereitgestellt werden. Sie unterliegen nicht den Stimmungsschwankungen des politischen Alltags und verfügen daher über größere Planungssicherheit.
Sondervermögen haben eine lange Tradition. In der deutschen Wirtschaftsgeschichte waren sie immer wieder tragende Säulen der Finanzierung bei großen strukturellen Umbrüchen. Die Gelder des legendären Marshallplans für den deutschen Wiederaufbau wurden im sogenannten ERP-Sondervermögen gesammelt, das Kredite am Markt aufnehmen darf und damit Unternehmen fördern soll. Auch ein Teil der Kosten der deutschen Einheit wurde in den 1990er-Jahren durch Sondervermögen geschultert.
„Zeitenwende“ der Bundesregierung greift zu kurz
Das Sondervermögen für die Bundeswehr deckt bestenfalls eine Dimension der neuen sicherheitspolitischen Herausforderung ab. Denn der Krieg in der Ukraine hat uns nicht nur an die seit langem bekannten Defizite der Bundeswehr erinnert. Er hat uns vor allem verdeutlicht, wie sehr wir von russischen Energielieferungen abhängig sind. Besonders Gas spielt eine zentrale Rolle. Es kommt in erster Linie in den Bereichen Energiewirtschaft, Gebäude und Industrie zum Einsatz.
Aus sicherheitspolitischer Perspektive wiegt diese Abhängigkeit momentan schwerer als die mangelnde Ausrüstung der Bundeswehr. Die letzten Monate haben deutlich gemacht, dass Deutschland nicht in der Lage ist, kurzfristig auf Gasimporte aus Russland zu verzichten. Deutschland wird so zum Spielball russischer Gaslieferung.
Bereits im vergangenen Jahr hatte Gazprom die europäischen Gasspeicher deutlich weniger gefüllt. Infolgedessen stiegen die Handels- und Verbraucherpreise. Der Krieg hat die Situation nochmals deutlich verschlechtert. Aktuell fließen durch Nord Stream 1 nur 40 Prozent der vertraglich vereinbarten Liefermengen aus Russland.
Noch ist nicht abzusehen, welche massiven Nachzahlungen die Verbraucher aufbringen müssen. Immerhin beziehen 20 Millionen Haushalte in Deutschland Gas – rund 50 Prozent aller Haushalte. Die Gefahr besteht, dass es zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen kommt. Gerade die unteren Einkommensschichten sind durch Preissprünge existenziell bedroht.
Die Bundesregierung müsste auf diese Herausforderung zügig antworten. Die strategisch sinnvolle und vorausschauende Reaktion auf den Krieg wäre, den klimaneutralen Umbau der deutschen Wirtschaft zu beschleunigen. Dies erfordert Investitionen in den Ausbau der erneuerbaren Energien, in die Sanierung des Gebäudebestandes und die Installation von Wärmepumpen. Auch der Umbau der Industrie verlangt erhebliche finanzielle Mittel, etwa für den Einsatz von grünem Wasserstoff in den Produktionsprozessen. Die ökologische Transformation muss die zweite und zugleich wichtigste Dimension der neuen Zeitenwende werden.
Beim ökologischen Umbau nicht sparen
Das zentrale Finanzierungsinstrument für den ökologischen Umbau ist der Energie- und Klimafonds (EKF), der bereits 2011 von der Bundesregierung gegründet wurde. Der EKF ist ebenfalls ein Sondervermögen. Er kann jedoch bislang keine eigenen Kredite aufnehmen, um die notwendigen Investitionen zu tätigen. Er finanziert sich ausschließlich über Einnahmen aus dem europäischen und nationalen Emissionshandel, Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt und aus Rücklagen.
Lediglich die 60 Milliarden Euro aus dem zweiten Nachtragshaushalt des vergangenen Jahres sind Kreditermächtigungen, die dem EKF zugeführt wurden. Allerdings wurden sie einmalig aus dem Bundeshaushalt übertragen und sind auf diese Summe begrenzt. Eigenständig kann der EKF keine Kredite aufnehmen.
In diesem Jahr soll der EKF Einnahmen und Ausgaben von knapp 107 Milliarden Euro haben. Das ist zwar eine große Summe, aber der erste Eindruck täuscht. Denn ein Großteil der Einnahmen fließt in die Rücklage, um auch in den kommenden Jahren Klimainvestitionen tätigen zu können. Laut EKF-Finanzplan sollen die Programmausgaben bis 2025 insgesamt 158 Milliarden Euro betragen. Für die Zeit nach 2025 fehlt es jedoch an finanziellen Mitteln. Trotz aller bisherigen Klimaprogramme der Bundesregierung besteht eine Finanzierungslücke von 162 Milliarden Euro bis 2030.
Daher schlagen wir vor, den EKF – analog zum Sondervermögen Bundeswehr – mit eigenen Kreditermächtigungen auszustatten. So kann er zum scharfen Schwert der ökologischen Transformation werden und die ausgerufene Zeitenwende erheblich voranbringen. Geschieht das nicht, ist das Langfristprojekt Klimaneutralität und mit ihm die Ziele Energiesicherheit und -Unabhängigkeit ernsthaft gefährdet.
Mit eigenen Kreditermächtigungen kann der EKF unabhängig vom politischen Tagesgeschehen und jährlich wiederkehrenden, lähmenden Haushaltsdebatten die zweifelsohne herausfordernde Umwälzung unserer Wirtschaft vorantreiben. Der Umfang der jährlichen Finanzierungssumme ist vergleichbar mit dem Sondervermögen Bundeswehr. Mit zusätzlichen 20 Milliarden Euro pro Jahr bis 2030 wären Energiesicherheit und -Unabhängigkeit zu haben. Ein verkraftbarer Preis angesichts der drohenden sozialen Verwerfungen durch erhöhte Gaspreise, der enormen Abhängigkeit von fossilen Despoten und der Notwendigkeit, den Klimaschutz wesentlich zu beschleunigen.
Energiesicherheit soll durch das Grundgesetz abgesichert werden
Den notwendigen Investitionen in Energiesicherheit und -Unabhängigkeit steht die im Grundgesetz verankerte und vielfach kritisierte Schuldenbremse entgegen. Der Bund darf neue Kredite nur im Umfang von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) jährlich aufnehmen – Sondervermögen mit eingeschlossen. Für 2023 wären das etwa 14 Milliarden Euro. Deshalb hat der Bundestag auch einer Grundgesetzänderung zugestimmt, wonach das Sondervermögen für die Bundeswehr von der Schuldenbremse ausgenommen ist. Nur so kann die Bundeswehr aufgerüstet werden.
Gleiches schlagen wir nun für den EKF vor. Da eine umfangreiche Reform der Schuldenbremse in der aktuellen Legislaturperiode nicht realistisch erscheint, wäre die Verankerung des Sondervermögens EKF im Grundgesetz eine pragmatische Lösung für ein akutes Problem.
Die durch den Ukrainekrieg verursachte sicherheitspolitische Zeitenwende verlangt nach einem weitreichenden Engagement des Staates. Eine beschleunigte Transformation hin zur Klimaneutralität dient gleichzeitig ökologischen und sicherheitspolitischen Zielen. Die ökologische Transformation wird so zur Kernfrage der neuen Sicherheitspolitik. Diese gelingt nur mit massiven öffentlichen Investitionen. Hierfür ist ein Sondervermögen für Energiesicherheit und -Unabhängigkeit mit eigener Kreditermächtigung notwendig, die von der Schuldenbremse ausgenommen ist – abgesichert durch das Grundgesetz. Die praktikabelste Lösung wäre, den bereits existierenden EKF mit entsprechenden Rechten auszustatten.
*Jan-Erik Thie ist Doktorand am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und am Global Climate Forum in Berlin.
*Steffen Murau ist Senior Researcher am Global Climate Forum in Berlin, Postdoctoral Fellow am Global Development Policy Center der Boston University und Research Fellow im Monetary and Economic Department der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.