China wird nervös: Erlebt Putin in Kaliningrad sein Waterloo?

Der Konflikt um Kaliningrad gefährdet Chinas wichtigstes Projekt, die Neue Seidenstraße. Verliert Peking die Geduld mit Putin?

Güterzüge stehen am Bahnhof Kaliningrad Sortirovochny.
Güterzüge stehen am Bahnhof Kaliningrad Sortirovochny.imago/Mikhail Golenkov

Um die russische Exklave Kaliningrad ist zwischen Litauen und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite ein Konflikt ausgebrochen, der zu einer Ausweitung der Kriegshandlungen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine führen könnte und auch für die Nato von Bedeutung wäre, weil Litauen Nato-Mitglied ist. Litauen hat im Zug der Umsetzung der EU-Sanktionen gegen Russland den Bahn-Frachtverkehr eingeschränkt. Bestimmte Güter dürfen nicht mehr via Bahn durch Litauen nach Kaliningrad gebracht werden.

Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung der Region Kaliningrad veröffentlichte am Dienstag über die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass eine Liste mit Gütern, die betroffen sind. Auf der Liste stehen Industriegüter für den Maschinen- und Anlagebau und der Medizintechnik, zahlreiche Luxusgüter wie teure Autos und Motorräder, Rassepferde, Kunstwerke, Antiquitäten, Golf- und Billardausrüstung, Trüffel, Kaviar oder Zigarren. Bis Ende des Jahres werden auch Öl und Kohle gesperrt werden.

Während der Kreml von Elementen einer „Blockade“ sprach, betonte Litauen, es handle sich lediglich um die Umsetzung der Sanktionen. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärten, die Maßnahmen stünden im Einklang mit den Sanktionen. Der EU-Botschafter in Moskau, Markus Ederer, wurde ins russische Außenministerium einbestellt und setzte sich für eine diplomatische Lösung ein, wie westliche und russische Medien übereinstimmend berichten.

Russland beruft sich auf freien Warenverkehr durch EU-Beitritt Litauens

Moskau vertritt den Standunkt, dass der freie Transit von und nach Kaliningrad beim EU-Beitritt Litauens vereinbart worden sei, und spricht von einer Rechtsverletzung, für die man sich Vergeltung vorbehalte. Der Gouverneur von Kaliningrad, Anton Alichanow, sagte laut ARD, dass die europäischen Sanktionen der EU selbst schaden würden: „Das Baltikum, seine Häfen und sein Verkehrssystem können ohne die Russische Föderation, egal wie sehr sie es wollen, nicht existieren.“ Ein Blick auf die Karte, welche Häfen mit Gütern beliefert werden können, zeige: „Wenn es keinen Transit aus Russland mehr geben wird, dann geht es für die litauische Bahn nicht einfach nur steil bergab, sondern es geht gegen null“, sagte Alichanow. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte: „Die Lage ist mehr als ernst.“ Sie werde jetzt mit Blick auf „Reaktionen“ geprüft. Von welcher Art diese Gegenmaßnahmen sein könnten, konkretisierte er nicht. Laut der Zeitung Kommersant bestehe die Hauptsorge Moskaus und der Führung der Exklave darin, eine ununterbrochene Versorgung mit für den Transit gesperrten Waren sicherzustellen.

Kaliningrad kann zu großen Teilen auch über den Seeweg versorgt werden. Allerdings wird die Lieferung per Schiff teurer und es braucht einige Wochen der Vorbereitung, bis eine Ersatzlogistik aufgebaut ist. Erschwert wird dieses Vorhaben, weil die Häfen weltweit aktuell mit großen Problemen zu kämpfen haben, da wegen der Lockdowns in China in vielen Häfen das pure Chaos ausgebrochen ist.

Von Militärstrategen wird mit dem neuen Konflikt die Möglichkeit beschworen, dass es zu einer Eskalation mit Nuklearwaffeneinsatz kommen könnte. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Tatsache verwiesen, dass Russland in Kaliningrad Iskander-Raketen stationiert hat, die im Fall eines Nato-Beitritts Finnlands laut russischen Angaben mit Atomsprengköpfen ausgerüstet werden könnten.

Kaliningrad spielt zentrale Rolle in Projekt Neue Seidenstraße

Mit besonderer Sorge wird die Führung in Peking auf die Entwicklung blicken: Kaliningrad spielt eine zentrale Rolle in der chinesischen Belt-and-Road-Initiative (BRI), der Neuen Seidenstraße. So hatte die DB Cargo im Dezember 2020 ihren Containerdienst von Xian nach Oslo über den Frachthafen von Kaliningrad in Betrieb genommen. Die Transitzeit von Xian nach Oslo beträgt über Kaliningrad 16 Tage – eine schnelle Fahrt im Vergleich zu einer Standardreisezeit von 40 bis 45 Tagen über die traditionelle Hochseeroute. Besonders für zeitkritische und verderbliche Güter sollte diese Route für Europa ein wichtiger neuer Handelsweg werden. Der Eisenbahnknotenpunkt könnte vor allem für die nordeuropäischen Länder, aber auch für Deutschland eine wichtige Rolle spielen.

Mit dem Start der Schienengüterverkehrsroute nach Kaliningrad wurden laut einem Bericht des Silk Road Briefings im Jahr 2020 mehrere neue Verbindungen über Kaliningrad eingerichtet, darunter die Seeroute Chengdu–Rotterdam sowie die Route Kaliningrad–Rostock–Verona mit einer Seeverbindung zwischen den baltischen Häfen. Aber auch für reine Bahntransporte wurde die Route durch Kaliningrad genutzt, etwa mit dem Xi’an-Neuss-Express, der bisher schnellsten Bahnverbindung zwischen China und Deutschland.

Auch durch Deutschland verläuft die Neue Seidenstraße. Hier sind Container im Hafen Mukran zu sehen.
Auch durch Deutschland verläuft die Neue Seidenstraße. Hier sind Container im Hafen Mukran zu sehen.dpa/Jens Büttner

Eine Unterbrechung der BRI-Route durch Kampfhandlungen oder wirtschaftliche Restriktionen könnte ein schwerer Rückschlag für Chinas Ambitionen sein, sich auf neuen Routen mit Europa kurzzuschließen. Für die europäische Wirtschaft könnte der Wegfall der effizienteren Transportwege zu Lieferschwierigkeiten oder Verzögerungen und somit zu höheren Kosten führen.

Die Russland-Sanktionen haben bereits zu einem Stau bei der Fracht geführt, berichtet Bloomberg. Mehr als eine Million Container, die mehr als 10.000 Kilometer auf  der Eisenbahn-Route transportiert werden sollen, die Westeuropa über Russland mit dem Osten Chinas verbindet, müssen nun andere Routen ausweichen, was die Kosten erhöht und das globale Chaos in der Lieferkette zu verschlimmern droht.

Doch für China ist die Neue Seidenstraße ein unverzichtbares Projekt. Wegen der Gefahr, die die Russland-Sanktionen auch für Peking darstellt, hat China in den vergangenen Monaten begonnen, dringend benötigte neue Korridore zwischen Europa und China zu entwickeln. Peking hat sich bisher neutral positiv zum Ukraine-Krieg verhalten und sieht die militärische Auseinandersetzung mit Sorge auch für die eigenen Ambitionen. So hatte der Einstieg von Elon Musk mit Starlink und dem Aufbau einer externen Internet-Infrastruktur für die Ukraine für Irritationen gesorgt.

Peking arbeitet an Alternativen unter Umgehung Russlands

Peking will daher die Verbindung zu Europa so schnell und stabil als möglich machen und will sich nicht auf Spekulationen einlassen, wie der aktuelle Krieg für Russland ausgeht. Daher werden zwei BRI-Projekte nun auf Hochtouren forciert: die China-Zentralasien-Gaspipeline D und die China-Kirgisistan-Usbekistan-Eisenbahn. Beide wurden jahrelang entwickelt und sollen nun das Herzstück des Projekts werden – und beide sollen im Endeffekt dazu führen, Russland weiträumig zu umgehen, um nicht in die Sanktionsfalle zu tappen.

Die China-Zentralasien-Gaspipeline D soll die Gasfelder Turkmenistans über Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan mit Xinjiang verbinden. Das war das Hauptthema der Gespräche, die der turkmenische Präsident Berdimuhamedow während der Olympischen Winterspielen in Peking mit den Chinesen geführt hat.

Die über 500 Kilometer lange China-Kirgisistan-Usbekistan-Eisenbahn wird ihrerseits die beiden zentralasiatischen Staaten über die bestehenden Schienennetze in Turkmenistan mit dem chinesisch-europäischen Güterschienennetz verbinden. Diese Entwicklung ist von besonderer Bedeutung: Mit den Projekten wird China in die Lage versetzt, seine Waren über den Iran oder über kaspische Häfen umzuschlagen und dabei vollständig das sanktionierte Russland zu umgehen.

China ist bemüht, seine eigenen Allianzen zu schmieden – auch ohne Russland. Bereits Anfang März berichtete die Zeitung Wedomosti, dass China versuche, keine Fracht mehr über Russland in die EU zu transportieren. Der chinesische Außenminister Wang Yi reiste kürzlich nach Kasachstan, einem der zentralen Staaten der Neuen Seidenstraße. Er traf den kasachischen Präsidenten Kassym-Jomart Tokayev und alle seine Amtskollegen aus den zentralasiatischen Staaten bei einem Gipfeltreffen in Nur-Sultan. Die Gruppe tauschte sich über alle wichtigen Fragen betreffend Handel und Sicherheit aus. Die kaspische Route von China nach Europa führt auch über Kasachstan. Anfang Mai besuchte Tokayev den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan  und besprach mit ihm, wie die Handels-Zusammenarbeit mit China ohne Russland funktionieren könne.

Wenig später weigerte sich Tokayev gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in St. Petersburg, die neuen Donbass-Republiken anzuerkennen. In einem Interview mit der staatlichen chinesischen Global Times sagte der kasachische Botschafter in Peking, man sei mit Russland befreundet und werde keine Sanktionen verhängen. Aber man werde auch nicht gegen die Sanktionen des Westens verstoßen. Die Haltung teile man mit China, einem strategischen Partner.

Auch Aserbaidschan und Bulgarien buhlen um chinesische Investments, indem sie auf alternative Transportwege verweisen, wie etwa die Bahnlinie Baku-Tiflis- Kars oder die China-CEEC-Partnerschaft, einem Forum, bei dem Bulgarien Mitglied ist und das bisher von der EU kritisch gesehen wurde, weil Brüssel China nicht zuviel Einfluss in Mittel- und Osteuropa überlassen wollte.  Die Isolation Russland könnte hier zu einem Umdenken führen, analysiert Chris Devonshire-Ellis vom Silk Road Briefing.

Vor diesem Hintergrund geht es für Putin in Kaliningrad um mehr als nur um einen weiteren Kampfschauplatz. Sollte, wegen einer chaotischen Lage in der Exklave, China zum Überdenken seiner Haltung gegenüber Russland kommen, um nicht das zentrale Projekt der Seidenstraße zu gefährden, dann könnte die Auseinandersetzung um Kaliningrad zum Waterloo Putins werden – auch wenn der Konflikt nur wirtschaftlich ausgetragen wird und es zu keiner militärischen Eskalation kommt.