Daimler wird tiefer in Dieselskandal gezogen
Berlin - In der Abgasaffäre rückt Daimler in den Fokus. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wirft dem Autobauer vor, bei rund einer Million Fahrzeugen illegale Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung eingebaut zu haben. Wir erläutern, warum nun sogar die Stilllegung der Fahrzeuge droht.
Wie sind die Ermittler Daimler auf die Spur gekommen?
Dazu war keine große Raffinesse nötig. Schon im Herbst 2015, kurz nach Aufdeckung der Abgas-Betrügereien bei VW, haben Nachmessungen von Umweltorganisationen ergeben, dass auch Mercedes-Pkw mit Dieselmotoren im alltäglichen Fahrbetrieb erheblich mehr giftiges Stickoxid ausstoßen, als zulässig ist. Die Abgasreinigung wird vom Bordcomputer weitgehend abgeschaltet. Bei offiziellen Messungen aber haben diese Autos die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten, weil die Katalysatoren auf den Prüfständen – aber nur dort – vorschriftsmäßig arbeiten.
Wann hat die Justiz reagiert?
Obwohl seit mehr als anderthalb Jahren immer neue Überschreitungen der Grenzwerte um ein Vielfaches für Fahrzeuge aus dem Daimler-Konzern publiziert werden, haben sich die Justizbehörden reichlich Zeit gelassen. Sie recherchieren in Sachen Daimler seit März. Im Mai gab es eine groß angelegte Durchsuchungsaktion an elf Standorten des Konzerns mit 23 Staatsanwälten und 230 Polizisten. Die Ermittler gehen dem Verdacht auf Betrug und strafbare Werbung nach.
Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet nun, im Durchsuchungsbeschluss werde dem Konzern vorgeworfen, zwischen 2008 und 2016 in Europa und in den USA rund eine Million Autos mit einer illegalen Abschaltvorrichtung verkauft zu haben. Die Pkw und Kleintransporter seien deshalb für den europäischen Markt „nicht zulassungsfähig“ gewesen. Deshalb bestehe die Gefahr, dass die Fahrzeuge stillgelegt werden müssten. Kunden seien betrogen und mit falscher Werbung in die Irre geführt worden. Daimler hatte damit geworben, dass die Fahrzeuge besonders umweltfreundlich sind.
Wie reagiert Daimler auf die Vorwürfe?
„Die Gefahr einer Stilllegungsverfügung sehen wir nicht“, sagte ein Daimler-Sprecher. Der Konzern betont immer wieder, dass die eingesetzten Abschaltvorrichtungen zulässig seien. Das Unternehmen räumt ein, mit sogenannten Thermofenstern zu arbeiten. Das bedeutet, der Bordcomputer schaltet die Abgasreinigung bei Außentemperaturen, die nicht den Laborbedingungen entsprechen, mehr oder weniger ab. Daimler hält dies für rechtens, und zwar mit dem Hinweis, auf Schutz für den Motor. In der Tat gibt es in den Bestimmungen der EU den Passus, der die zeitweise Abschaltung der Abgasreinigung erlaubt. Zahlreiche weitere Autobauer argumentieren ähnlich.
Wie beurteilen Umweltschützer die Argumentation von Daimler?
Umweltschützer halten die Argumentation für vorgeschoben. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages weist in einem Rechtsgutachten ebenfalls darauf hin, dass die Abschaltung zum Schutz des Motors nur kurzzeitig zulässig sei, aber nicht als Quasi-Dauerzustand des Abgasreinigungssystems. Dieser Auffassung haben sich offenbar auch die Stuttgarter Staatsanwälte angeschlossen.
Ist der Fall mit Volkswagen vergleichbar?
Volkswagen ist noch erheblich dreister vorgegangen. Die Wolfsburger haben systematisch und vorsätzlich gehandelt und dies auch offiziell gegenüber dem US-Justizministerium eingestanden. Nicht mit Thermofenstern wurde gearbeitet. Die Software hat vielmehr die Abgasreinigung gezielt nur dann eingeschaltet, wenn der Bordcomputer erkannte, dass das Fahrzeug auf einem Prüfstand steht. Zudem sind bei VW elf Millionen Fahrzeuge betroffen.
Das alles hat VW-Chef Martin Winterkorn den Kopf gekostet. Daimler-Boss Dieter Zetsche sitzt hingegen bislang fest im Sattel – auch weil er Umsatz und Gewinn des Konzerns in vorher nie erreichter Höhe gesteigert. Allerdings brach am Donnerstag der Aktienkurs von Daimler zeitweise um mehr als drei Prozent ein.
Wie reagiert die Bundesregierung?
Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) hat sich auf die Seite der Autoindustrie gestellt. Gleichwohl hat das ihm unterstellte Kraftfahrtbundesamt ebenfalls extrem hohe Überschreitungen der NOX-Werte bei eigenen, stichprobenartigen Straßentests mit Fahrzeugen verschiedener Hersteller festgestellt. Doch die Behörde hat nicht die Stilllegung der Pkw angeordnet, sondern sich auf freiwillige Nachrüstungen der Fahrzeuge mit den Herstellern geeinigt – hier ist bislang allerdings kaum etwas geschehen: die Hersteller begründen dies mit technischen Problemen. Von den freiwilligen Rückruf-Aktionen sind auch knapp 250000 Autos von Mercedes betroffen.
Hat Daimler noch anderswo Ärger mit der Justiz?
Auch die US-Justiz befasst sich mit Daimlers Dieselmotoren. Unter anderem liegen mehrere Sammelklagen vor, die dem den Konzern Betrug vorwerfen. Zudem hat das Justizministerium das Management zu internen Untersuchungen betreffs Abgas-Manipulationen aufgefordert. Diese laufen mit der Unterstützung einer Anwaltskanzlei noch. Das Unternehmen muss nach Abschluss einen Bericht vorlegen. In den USA könnte es auf außergerichtliche Einigungen zulaufen – nebst Schadenersatzzahlungen.
Welche Folgen hätte eine Verurteilung von Daimler vor einem deutschen Gericht?
Eine Verurteilung könnte weitreichende Folgen für die gesamte Autobranche in Europa haben – da auch andere Autobauer mit Thermofenstern operieren. Massenweise Stilllegungen von Pkw und Schadenersatzzahlungen könnten die Folge sein. #article