Gerechtigkeitsdebatte: Die Ungleichheit schadet der Weltwirtschaft
Berlin - Ratingagenturen sind die Wachhunde der internationalen Geldanleger. Sie prüfen haarklein Schulden und Wirtschaftsleistung von Staaten, immer entlang der zwei Kriterien der Finanzwelt: Wie sicher ist der Schuldner, und wie rentabel arbeitet er? Sprich: Eignet er sich als Geldanlage? Die größte Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) hat sich nun die USA vorgenommen – und dem Land eine schwindende Wirtschaftskraft attestiert. Den Grund dafür sieht S&P nicht in zu hohen Steuern, zu hohen Schulden oder zu hohen Löhnen. Nein, es ist ein anderer, ausgefallener Grund: Die Ungleichheit in den USA ist zu hoch.
Derzeit bewegen Fragen von Ungerechtigkeit und Ungleichheit wieder die Ökonomen-Gemeinde. Vor allem in den Industrieländern wird beklagt, dass die Reichen immer reicher werden, die Armen nicht vorankommen und die Mittelschicht schrumpft. „Ungleichheit“, warnt OECD-Generalsekretär Angel Gurría, „schwächt unsere Gesellschaften und unsere Volkswirtschaften.“
Wohlhabende Elite
Nicht nur in den Euro-Krisenländern, sondern auch dort, wo die Wirtschaft brummt. Wie in den USA: Seit fünf Jahren wächst dort das Bruttoinlandsprodukt, seit 2009 hat es sich um 1300 Milliarden erhöht – doch der durchschnittliche US-Haushalt hat nicht mehr Geld in der Tasche. Real, abzüglich Inflation, stieg der Stundenlohn um magere 0,5 Prozent. Doch was der Durchschnitt verbirgt: Das reichste Fünftel der US-Haushalte verdiente im Jahr 2012 fast 8400 Dollar mehr als vor der Krise. Das ärmste Fünftel erhielt 275 Dollar weniger, so das Arbeitsministerium.
Nicht nur die Ungleichheit bei den Einkommen nimmt zu, auch bei den Vermögen: So gehören dem reichsten Prozent der Amerikaner inzwischen rund 35 Prozent des gesamten Vermögens, errechnete Philip Vermeulen für die Europäische Zentralbank. Dies ist kein exklusiv amerikanisches Phänomen: In Deutschland liegt der Anteil der Reichsten bei 32 Prozent des Gesamtvermögens.
Angeheizt wird die Ungleichheits-Debatte durch das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das im Oktober auf deutsch erscheint. Piketty warnt vor einer Welt, in der eine wohlhabende Elite den Rest der Bevölkerung abhängt. Es ist „das wichtigste Buch des Jahrzehnts“, lobte Nobelpreisträger Paul Krugman.
Die große Aufmerksamkeit für die Ungleichheit ist erklärungsbedürftig. Denn die Erkenntnisse sind nicht neu. Seit Langem weist zum Beispiel die OECD darauf hin, dass in den Industrieländern seit den achtziger Jahren die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Auch Piketty präsentiert bereits seit vielen Jahren seine Forschungsergebnisse, die er nun als Buch vorgelegt hat. Neu ist nicht der Befund wachsender Ungleichheit. Neu ist die Interpretation des Befundes vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation.