Berliner Zeitung: Was bedeutet der Beschluss von Karlsruhe zur Impfpflicht für Masern konkret?
Jessica Hamed: Die Masernimpfpflicht für Kitakinder und solche Kinder, die im Rahmen der Kindertagespflege betreut werden, wurde nunmehr höchstrichterlich bestätigt. Sofern keine Impfung, natürliche Immunität oder bestätigte Kontraindikation vorliegen, besteht damit ein Betreuungsverbot, d. h. diese Kinder sind von einer Betreuung ausgeschlossen, was entsprechend Druck auf die Eltern, die gemeinhin auf eine derartige Betreuung angewiesen sein dürften, ausübt.
Nicht entschieden hat das BVerfG allerdings insbesondere über die Nachweispflichten für Schulkinder (Rn. 49). Das ist dahingehend spannend, weil hier der Schulpflicht der Vorrang eingeräumt wurde, sodass kein Betreuungsverbot die Folge ist, sondern der Verstoß „lediglich“ bußgeldbewehrt ist. Das Bundesverfassungsgericht sieht die unterschiedliche Rechtsfolge als konsequent an, „da der Gesetzgeber […] den Eltern die Impfentscheidung weitestgehend belassen wollte“ (Rn. 163).
Was bedeutet der Vorbehalt einer verfassungskonformen Auslegung der Masernimpfpflicht?
Das BVerfG ist der Ansicht, dass die Masernimpfpflicht verfassungskonform ausgelegt werden könne. Verfassungskonform müsse diese Vorschrift so verstanden werden, dass bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern enthalten, die Pflicht aus Paragraf 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nur besteht, wenn es sich nicht um andere Impfstoffkomponenten als solche gegen Mumps, Röteln oder Windpocken handle. D.h. ein nur noch erhältlicher erweiterter Kombinationsimpfstoff würde die Pflicht nicht auslösen (Rn. 99). Das Gericht begründet die Auslegung mit der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, dort sei der aktuell existierende Kombinationsimpfstoff berücksichtigt worden.
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Müsste nicht – zu Ende gedacht – eigentlich auch von jedem, der eine Schule oder einen Kindergarten betritt, ein Impfausweis verlangt werden?
Das Gericht betont auch hier den weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Zwingend ist die Überlegung nicht, da die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei einem regelmäßigen, stundenlangen Aufenthalt höher ist, sodass sich der Verzicht auf ein absolutes Betretungsverbot rechtfertigen lässt. Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht aber auch ein weitergehendes Verbot für rechtmäßig erachten würde, da es schon bei den Corona-Entscheidungen (Bundesnotbremse und einrichtungsbezogene Impfpflicht) darauf verzichtet hat, dem Gesetzgeber Grenzen zu setzen.
Begründet der Beschluss Maßnahmen zu einer „zwangsweise gegen den Elternwillen durchgeführten Masernimpfung“?
Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Entscheidung, dass keine „mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht“ angeordnet sei und dass den Eltern ein „relevanter Freiraum“ verbleibe, sowie dass die „Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern“ nicht aufgehoben sei (Rn. 145). Das stimmt rechtlich, faktisch aber können sich eine anderweitige Betreuung nur die wenigsten Eltern leisten, d.h. die hier hochgehaltene angebliche Freiwilligkeit ist letztlich eine Farce. Das BVerfG erkennt zwar den Worten nach an, dass sich „die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich“ verengt (Rn. 134). Den Umstand, dass aber noch eine anderweitige Betreuung familienübergreifend privat organisiert werden darf, bewertet das Gericht in realitätsferner Weise dergestalt, dass der Gesetzgeber damit zeigt, dass die freie Gestaltung der Kindererziehung umfassende Elternrecht nicht aus dem Blick verloren habe (Rn. 148).
Dasselbe Problem stellt sich bei Schulkindern – wobei davon auszugehen ist, dass das BVerfG auch diesbezüglich Verfassungskonformität bescheinigen wird – hier drohen bei Zuwiderhandlung ggf. sogar mehrfach Zwangs- und Bußgelder. Die freie Impfentscheidung muss man sich damit finanziell und psychisch leisten können.
Gibt es einen Trend bei Höchstgerichten, der sagt: Der Schutz der Gesundheit der Allgemeinheit steht über dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit?
Das BVerfG beruft sich im Zusammenhang mit der hier angeblich bestehende Schutzpflicht auf seine Entscheidungen zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht (Rn. 107) und zur Bundesnotbremse (Rn. 146). Die beiden höchstrichterlichen Corona-Entscheidungen stellten eine Zäsur im Verfassungsrecht dar und läuteten einen Paradigmenwechsel ein.
Zum einen weitete das BVerfG die – grundsätzlich bestehenden – Schutzpflichten des Staates bis in das allgemeine Lebensrisiko hinein aus und zum anderen setzt es dem staatlichen Handlungsspielraum faktisch keine Grenzen. Diese Linie setzt sich nun fort und es stellt sich die Frage, wie weit die individuelle Freiheit noch zugunsten eines vermeintlichen kollektiven Nutzens verdrängt wird. Wegbereiter für eine derartige gesamtgesellschaftliche Entwicklung war meines Erachtens die verfassungsrechtliche Fehlgewichtung zu Beginn der Corona-Krise.
Das Recht auf Leben wurde absolut gesetzt, obwohl eine Abwägung zwischen diesem Recht und anderen Rechtsgütern wie der der körperlichen Unversehrtheit in einem freiheitlichen Staat konstituierend ist. Dieser „Trend“ gefährdet den demokratischen Rechtsstaat. Der renommierte Staatsrechtler Uwe Volkmann hat bereits im März 2020 vor einem „hysterischen Hygienestaat“ gewarnt.
Kann man den Beschluss in Bezug setzen zu den höchstgerichtlichen Entscheidungen zur einrichtungsbezogenen Corona-Impfpflicht?
Der Beschluss ist gewissermaßen die logische Fortsetzung des oben beschriebenen Paradigmenwechsels. Ich hätte eigentlich erwartete, dass über die Masernimpfpflicht – wie es auch geplant war – vor der Covid-Impfpflicht entschieden wird. Wäre dem so gewesen, wäre das Gericht gehalten gewesen, Maßstäbe für eine Impfpflicht herauszuarbeiten. Die wären bei den Covid-Impfungen allesamt offensichtlich nicht erfüllt gewesen. Während die Masernimpfung potenziell dazu geeignet ist, die Erkrankung auszurotten (Rn. 149), ist das bei den Covid-Impfungen nicht der Fall. Ferner ist anders als die Covid-Impfstoffe, der Masernimpfstoff gut erforscht (Rn. 13) und eine Herdenimmunität ist herstellbar (Rn. 125). Mit derartigen „harten“ Kriterien setzt sich das Gericht aber nicht ausreichend – und schon gar nicht bezogen auf die einrichtungsbezogene Impfpflicht – auseinander. Den Richterinnen und Richtern genügt es, dass der Staat damit einer sich selbst gesetzten Schutzpflicht zugunsten vulnerabler Gruppen nachkommen möchte und lässt dem Staat – wie auch schon bei allen bestätigten Corona-Maßnahmen – völlig freie Hand.
Kann man in Kombination der höchstrichterlichen Rechtsprechung davon ausgehen, dass Impfpflichten künftig leichter beschlossen werden können?
Mit dieser Rechtsprechung kann nahezu alles, was irgendjemanden vor einer Erkrankung oder Tod schützen soll und damit mittelbar auch das Gesundheitssystem entlastet, angeordnet werden. Langfristig ist hierhin ein Trend zur Pflicht zur Gesundhaltung zu erkennen. Grenzen wurden nicht definiert und scheinen auch nicht zu existieren. Das Gericht nahm an, dass eine Masernimpfrate von 95 Prozent erforderlich sei (Rn. 152); dass die Impfquote im Kindesalter schon bei knapp 93 Prozent lag, wurde nicht angemessen berücksichtigt. Ebenso wenig hatte das Gericht bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht berücksichtigt, dass die Covid-Impfungen keinen relevanten Fremdschutz verleihen. Beide Impfpflicht-Entscheidungen sowie die „Bundesnotbremse“-Entscheidungen signalisieren letztlich: freie Fahrt für den immer paternalistischer werdenden Staat. Ob Gesundheitsschutz, Klima- oder Energiekrise, es zeichnet sich ab, dass der Staat schalten und walten kann, wie er möchte.
Als nächster Schritt in Sachen Gesundheit wäre Übrigens denkbar, dass bei „verschuldeten“ Erkrankungen – ähnlich wie Obliegenheitsverletzungen im Versicherungsrecht – die Solidargemeinschaft nicht mehr in Gänze aufkommt. Ansätze wurden bei Corona immer wieder öffentlich andiskutiert und sind natürlich auch bei anderen Erkrankungen vorstellbar. Bislang beziehen sich diese Überlegungen bzw. realen Sanktionen (kein Quarantäne-Erstattung für Ungeimpfte) soweit ersichtlich allesamt auf Infektionskrankheiten, nicht einleuchtend ist indes, warum Erkrankungen durch ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung, Alkohol/Nikotinkonsum, riskanten Lebensweisen usw. davon ausgenommen sein sollten.
Wir sollten uns fragen, ob wir diese Entwicklung wirklich wollen. In einem freiheitlichen Staat kann es dafür meines Erachtens nur eine Antwort geben: Im Zweifel für die Freiheit.
Jessica Hamed ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht, stellvertretende Direktorin des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) und Dozentin an der Hochschule Mainz.
Das Interview führte Michael Maier.