Interview mit Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch: Der größte Fehler ist die Wahl der Eltern

In der öffentlichen Debatte wimmelt es von Chancen: Bürgern werden Bildungs-, Job- und Aufstiegschancen versprochen. Parteien und Forscher fordern gleiche Chancen für alle. Die „Chance“ ist zu einem zentralen politischen Begriff geworden. Aber was bedeutet sie? Gerhard Bosch erforscht seit Jahren, welche Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten Menschen in Deutschland und Europa haben. Er ist viel unterwegs, für das Interview macht er einen Abstecher in die Redaktion der Berliner Zeitung.

Herr Bosch, was ist das Gegenteil von Schulden?

Guthaben.

Und von Armut?

Reichtum.

Und von Arbeitslosigkeit?

Beschäftigung. Ist das eine Lockerungsübung vor dem Interview?

Nein, wir sind schon mitten im Thema. Das Gegenstück zu diesen Begriffen ist: Chancen. Zumindest, wenn man politischen Slogans glaubt. Die FDP wirbt mit Chancen statt Schulden, die Grünen fordern Chancen statt Armut, und die SPD plakatierte vor der Europawahl: „Ein Europa der Chancen. Nicht der Arbeitslosigkeit.“ Warum sagt die SPD nicht einfach: Beschäftigung statt Arbeitslosigkeit?

Chancen – das ist weniger konkret als Beschäftigung. Diese Vagheit will man im Politischen. Man macht ein Versprechen, aber man wird nicht konkret. Wenn man den Chancen dann auch noch etwas Negatives gegenüberstellt, muss man den Begriff gar nicht mehr interpretieren: Chancen statt Armut – da sind Chancen doch allemal besser.

Warum ist ausgerechnet der Begriff Chance so beliebt? Bürgern werden ja auch auf anderen Feldern ständig irgendwelche Chancen versprochen: Job-, Aufstiegs-, Bildungschancen.

Der Begriff hat eine starke positive Ausstrahlung, die Menschen verbinden damit etwas Gutes: Chancen sind gute Möglichkeiten, die man ergreifen kann. Gleichzeitig ist der Begriff so vage, dass jeder das hineinlegen kann, was ihm besonders wichtig ist: Die einen denken bei Jobchancen an Karriere, die anderen an einen sicheren Arbeitsplatz.

Und was bedeutet Chance wirklich?

Sie bezeichnet im Kern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt. Dabei ist die Chance immer mit Begrenzung verbunden, das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Es gibt nur eine begrenzte Zahl von guten Jobs, um die viele Menschen konkurrieren. Viele haben die Chance, sich zu bewerben, aber lange nicht jeder wird am Ende eine gute Stelle haben.

Dann kann man Leute ziemlich veräppeln, wenn man ihnen Jobchancen verspricht. Die Wahrscheinlichkeit, die Stelle zu bekommen, kann eins zu zehn oder eins zu einer Million sein.

Das stimmt. Wenn die Wahrscheinlichkeit allerdings gegen Null tendiert, fallen die Leute nicht mehr darauf herein. Dann ist es eine Lotterie!

Was verbirgt sich hinter der Aufforderung: Jeder sollte seine Chance nutzen?
Das ist eine Einladung zum Wettbewerb: Bereitet Euch vor, zieht die Laufschuhe an, ihr geht in einen Wettbewerb mit anderen rein! Gleichzeitig wird damit dem Einzelnen die Verantwortung für seinen Erfolg zugewiesen.

Die meisten Menschen wollen zunächst einmal einen guten und sicheren Arbeitsplatz. Warum geben sich viele mit dem vagen Chancenversprechen zufrieden?
Bessere Chancen – das klingt nach mehr Jobs. Das muss aber nicht so sein. Wenn zum Beispiel Frauen bessere Jobchancen haben, haben Männer schlechtere, wenn es insgesamt nicht mehr Stellen gibt.

Wären Sie froh, wenn man Ihnen sagte: Es besteht die Chance, dass Sie nächste Woche noch Ihren Job haben?
Nein, das wäre eine Drohung. Ich müsste mir dann überlegen, ob meine Leistung so nachgelassen hat, dass man mich rauswerfen will. Diese Angst wird heute zum Alltag. Wir leben in einem System permanenter Bewährung, in dem Arbeitsplätze immer mehr nur auf Zeit vergeben werden. In manchen Unternehmen muss man sich regelmäßig auf den eigenen Arbeitsplatz wieder bewerben.


Gleiche Chancen für alle – diese Forderung würde jeder unterschreiben. Wann ist dieses Ziel erreicht?

Die Chancengleichheit ist zunächst einmal eine Abgrenzung zum Feudalismus, wo Adelige Privilegien genossen und beispielsweise ein Vorrecht auf staatliche Positionen hatten. Die Folge war, dass Regierungsämter auch mit adeligen Trotteln besetzt wurden. Das will heute niemand mehr. Heute gibt es keine formalen Privilegien mehr, heute ist jeder vor dem Gesetz gleich. Jeder kann theoretisch Staatschef werden, jeder Tellerwäscher kann Millionär werden.

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