Ist schon Krieg?
In einer Demokratie muss über Krieg und Frieden offen diskutiert und transparent entschieden werden. Die europäischen Werte sind unsere schärfsten Waffen. Ein Kommentar.

Wir leben in einem Umbruch, mit Krieg am Horizont. Leider ist es in der Menschheitsgeschichte immer so gewesen, dass die angeblich intelligenteste Spezies dazu neigt, von Zeit zu Zeit alles kurz und klein zu schlagen, was Generationen zuvor aufgebaut haben. Es gibt sogar ökonomische Theorien, die den Krieg als Vorstufe zum Wiederaufbau definieren und ihn als Profit-Turbo ansehen. Das ist zynisch und inhuman. Wie konnte es schon wieder so weit kommen?
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte kurz vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland bereits 2014 begonnen habe. Stoltenberg hat als Datum sicher die Annexion der Krim gemeint. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte daraufhin, der Krieg habe mit dem nach russischer Lesart vom Westen orchestrierten Putsch auf dem Maidan und der Verfolgung der Gruppe der ethnischen Russen durch Kiew begonnen. Diese Debatte ist völkerrechtlich relevant und historisch interessant: Für Gegenwart und unmittelbare Zukunft ist sie dahingehend bedeutsam, dass die politischen Anführer in Ost und West darin übereinstimmen, dass sich Europa seit neun Jahren im Kriegszustand befindet.
Wir leben also offenbar nach dem Motto: Stell dir vor, es herrscht Krieg, und keiner merkt es! Man muss in einer solchen Lage der Außenministerin Annalena Baerbock dankbar sein: Ihr Ausspruch, wir kämpften einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander, ist zwar keine formale Kriegserklärung. Dem Publikum wurde jedoch plötzlich vor Augen geführt, was in den Köpfen der politisch Verantwortlichen so alles herumspukt. Die meisten europäischen Politiker dürften ähnlich gepolt sein: Stell dir vor, es herrscht Krieg, aber wir wissen nicht, wer gegen wen. Oder aber wir sagen es nicht.
Das Versteckspiel wird von allen Seiten betrieben: Die Russen marschierten in der Ukraine als „grüne Männchen“ ohne Hoheitsabzeichen ein, die EU nennt ihre Kriegskasse „Friedensfazilität“, in den USA ist eine heftige Debatte entbrannt, ob die vielen plötzlich auftauchenden Ballons vielleicht Ufos sein könnten – ein Pentagon-Sprecher sagte auf eine diesbezügliche Frage mit ernster Miene, er könne zu diesem Zeitpunkt nichts ausschließen. Ob der Abwurf einer Atombombe auch nach Belieben als „false flag“ getarnt werden kann, ist in der Geschichte noch nicht ausprobiert worden.
In Europa haben sich die Regierungen unisono für den blanken Opportunismus in diesem dreckigen Spiel entscheiden. Wir lassen andere kämpfen, lautes Klatschen für die Ukrainer. Der Selbstbetrug in Sachen Krieg folgte dem Muster des „Flüchtlingsdeals“, mit dem sich die EU vom Autokraten Erdogan freigekauft und von ihren Werten verabschiedet hat. Das Unbehagen vieler Europäer an der fortwährenden Eskalation der Rhetorik rührt nach den immer neuen Volten in der Kriegspropaganda daher, dass man ihnen keinen reinen Wein eingeschenkt hat. Sie sind verwirrt. Sie wurden in die Illusion geschickt, dass sie mit Frieren gegen Putin das Unheil von sich fernhalten könnten. Und irgendwann, wenn Washington und Moskau das wollen, wird die Friedestaube einschweben, Dea ex machina aus dem ausgebrannten Rheinmetall.
Autokratische Systeme können ihre Völker zum Kämpfen zwingen. Sie können ihre Söhne und Töchter opfern. Wo es keine freien Medien, keine vitale Opposition und keinen funktionierenden Rechtsstaat gibt, dort kann ohne Widerspruch mobilisiert werden. Ein hochrangiger chinesischer Funktionär sagte kürzlich bei einem vertraulichen Gespräch auf die Frage, ob er eine militärische Auseinandersetzung mit dem Westen fürchte, er wünsche sich das nicht, doch wenn es dazu komme „werden wir kämpfen“. Ein türkischer Militär sagte im vertraulichen Gespräch vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, Deutschland sei kein Faktor in der Weltpolitik, „weil die Bundeswehr nicht kampfkräftig ist“.
In den europäischen Demokratien müsste es dagegen so laufen: Eine gewählte Regierung definiert die nationalen Interessen. Dann sondieren nach offener Diskussion die Parteien Lösungen, je nachdem, wie die Menschen denken. Schließlich entscheidet die Regierung auf der Grundlage der Beschlüsse eines nur dem Gewissen seiner Abgeordneten verpflichteten Parlaments, ob sich ein Land an einem Krieg beteiligt oder nicht. Voraussetzungen für das Funktionieren einer Demokratie sind Charakterstärke des politischen Personals, Transparenz der politischen Ziele und gemeinsame Standfestigkeit in existenziellen Fragen. Die europäischen Werte sind die historische Antithese zum Krieg, unsere Waffen, mit denen wir Frieden schaffen können.